Exerzitien auf der Straße

Christiane Wiesner, JEV-NET (Dezember 2003)

Wir sitzen um den – auf mich so ratlos wirkenden – Christus in der St. Michaels-Kirche, in Berlin-Kreuzberg. Unsere Mitte füllen wir mit Symbolen der inzwischen fast vergangenen 10 Exerzitien-Tage. Eine Zigarettenkippe, zwei Hände voll Straßendreck, ein – aus allen Farben mischbares – Braun, ein Bierdeckel mit aufgedruckter Krone, der Pfand für zwei Bierflaschen, ein Pflaster- und ein Kieselstein, ein Paar offene (leere?) Hände, zwei nackte, neugierige Füße… Neun TeilnehmerInnen und vier BegleiterInnen, ebenso unterschiedlich wie wir sind diese Versuche, das eigene Ich in der Begegnung mit anderen in Berlin, in Kreuzberg zu begreifen.

Symbolträchtig geworden ist auch die Bank, dort am Oranienplatz, wo diejenigen saßen, die vielleicht jene Kippe oder den Bierdeckel hinterlassen haben. Oder die trotzigen Zeilen an diesem besetzen Haus, unweit des Ostbahnhofs: die Grenze verlaufe nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen Oben und Unten…

Ränder, Grenzen und Übergänge

Unterwegs sein. Laufe ich durch die Straßen, als hätte ich etwas verloren? – wie ein streunender Hund? Oder existiert eine Gewissheit, dass meinem Umherirren ein Weg zugrunde liegt, der ein Ziel hat? Die Orte ergeben sich, oft einfach beim Gehen. Ich brauche nicht krampfhaft nach ihnen zu suchen. Aber Entscheidungen bleiben nicht aus, sonst komme ich nicht weiter. Manchmal gibt es eben kein Dazwischen, keinen Mittelweg. Die Ampeln. Stillstand und Bewegung, Aushalten. Oft kein „grün“, sondern Stillstand, „rot“. Meine Sehnsucht nach- ist meist verbunden mit einer Angst vor Veränderung….

Welches sind Orte, an denen ich mich „öffnen“ kann? Offenheit impliziert ein sich-verletzlich-Machen. Sooft kein Gespür für die Grenzen des Gegenübers oder eine Gleichgültigkeit, diese zu wahren, sie nicht ungefragt zu überschreiten.
Dennoch – oder: gerade deshalb – muss und will ich verletzbar bleiben, weil dort, wo etwas hart ist, nichts wachsen kann. „Liebe“ steht ganz groß auf einer Hausmauer….

Der „Raum der Stille“ in der Charité. Wir definieren Krankheit an unserem Maßstab des Gesunden, nicht umgekehrt. Deshalb vielleicht ist das „Normale“ so eng gefasst. Raum zum Abschied nehmen. Durch die steril-weißen Gänge gehe ich nach draußen. Die Menschen vor dem Kranken-haus sind ruhig, manche Teil von Leid gezeichnet.
Die Gedächtniskirche empfinde ich nicht als einen Raum der Besinnung und Stille. In ihrem Inneren ist für mich zu wenig aufgehoben von dieser schmerzlichen Differenz von draußen….

Straußberger Platz. 17. Juni. Stalinallee. Gewaltige Straßen, wenig Grün, sehr viel DDR noch zwischen den Häuserblöcken. Utopie der Gleichheit, die in einer Gleichmacherei und einem Plattmachen der Widersprüche und Differenzen mündete. „Einheit“ – diese in der DDR am häufigsten gebrauchte Vokabel.
Alles Andere, Dekadente, Surreale galt als Bedrohung, die die Einheit unterlaufen könnte und wurde deshalb unterbunden. Eine künstlich erzeugte Harmonie, die keine Kontraste und Konflikte aushalten und nicht daraus leben wollte bzw. konnte.
Asiaten statt Türken. Kein gar so ausgeprägter Individualismus spricht aus den Gesichtern. Ost-kreuz, (k)östlich, Ostwind und -rad. „Das Land, in dem ich geboren bin, liegt nicht mehr auf dieser Welt…“, singt Hans-Eckhardt Wenzel.
Das Niemandsland an der einstigen Mauer. In Rumänien gelte ich als Westeuropäerin, in Österreich eindeutig als Deutsche und ich selbst definiere mich nach wie vor, inner- und außerhalb Deutschlands als Ostdeutsche….

Mir fällt er noch stark auf, der Unterschied zwischen Ost und West in den Teilen dieser Stadt. Es macht einen Unterschied, ob ich im Prenzlauer Berg umhergehe oder in Kreuzberg. Und dennoch verläuft die „Grenze“ heute wohl weniger zwischen Ost und West, als vielmehr zwischen Oben und Unten…

Miteinander – mittendrin

Auf den Stufen zur einer U-Bahn-Station dieser junge Bettler. Er bittet um ein bisschen Kleingeld oder einen alten Fahrschein. Ganz selbstverständlich gehe ich an ihm vorbei, gebe dem Fahrschein-Automaten ebenso selbstverständlich das eingeforderte Geld, und stutze. Schwerfällig gehe ich zurück und frage ein bisschen umständlich, weshalb er dort sitzt und wofür er das Geld braucht.
Interesse, wirkliches Interesse, kann ich nicht wollen, es lässt sich nicht provozieren. Es ist da oder nicht. Mit Freundschaft verhält es sich ähnlich, und auf Liebe trifft dies wohl voll und ganz zu. Sie sind Geschenk, kein Vorhaben oder Plan.
Wir kommen ins Gespräch. Er fragt mich, weshalb ich zurück gekommen bin, was ich mache. Ich suche in Begegnungen auf der Straße, außerhalb der Kirchenmauern, „Gott“, erwidere ich zögernd und bin überrascht, dass ich auf seine Frage überhaupt etwas erwidern kann. Das sei ja „total abgefahren“, meint er immer wieder und sieht mich verwundert-lächelnd an.
Am Morgen war ich sehr unschlüssig, welche Richtung ich an diesem Tag einschlagen sollte. Weder Weg noch Ziel standen für mich fest und ergaben sich auch nicht, wie in den Tagen zuvor, einfach beim Gehen. Am liebsten hätte ich jemanden nach dem Weg gefragt – also nach dem Weg, den ich gehen sollte.

Diesen jungen Mann nun kann ich fragen:
Welche Orte sind für dich so bedeutsam, dass du mich dorthin schicken würdest? Wohin soll ich gehen? Er findet die Frage gar nicht so seltsam, wie ich vermutet habe, sondern denkt lange nach bevor er antwortet. Wenn ich etwas richtig Heftiges vertragen kann, so sollte ich zum Notdienst für Drogenabhängige am Wittenbergplatz gehen. Ein schöner Ort sei für ihn der Treptower Park. Zwei Orte, die für die beiden unterschiedlichen Seiten seines Lebens stehen können. Wir verabschieden uns, aber er begleitet mich eigentlich, ist eine Art „Wegweiser“ oder zumindest jemand, der mir etwas – etwas von sich – mit auf den Weg gegeben hat.
Am Wittenbergplatz angekommen, muss ich erneut nach dem Weg fragen, wobei mich verwunderte, mitleidige Blicke treffen. Schließlich finde ich den Notdienst. An der Tür keine Klinke, sondern ein Knauf. Ich hätte klingeln müssen, um hineinzukommen. „Darf ich mich hier mal umsehen? Ich habe da mit einem ‚Betroffenen‘ gesprochen…“ Ich bin nicht hineingegangen, ich wollte keine Neugierige mit „Sozialarbeiter-Interesse“ sein. Stattdessen setzte ich mich auf die gegenüberliegende Straßenseite und nahm mir Zeit dafür zu beobachten, wie schwer sich „Betroffene“ taten zu klingeln und jene Schwelle zu übertreten….

Ich gehe in Richtung Treptower Park. Ohne Tasche gehe ich los und meine Haltung – auf dem schließlich doch recht weiten Weg – erinnert mich an die eines Menschen, der mal eben um die Ecke zum Briefkasten läuft. Ein schönes, befreiendes Gefühl. Gewaltige Pappel-Alleen, ruhige Wiesen inmitten der lauten Stadt. Ein beruhigender Ort und ich erahne, weshalb es für meinen „Begleiter“ ein schöner Ort ist….

Die Stahlkonstruktion im Görlitzer Park. Von weitem sieht sie aus wie eine schiefstehende Kirche. Von nahem erkenne ich: bei Parallelität der Seitenstreben würde sie umkippen. Sie steht allein durch das Dagegen-Sein. Das Dagegen also ein Aufeinanderzu?…

Regeln regeln unser Zusammenleben oft, ebenso oft engen sie es ein, wenn wir über ein Regel einhalten nicht hinauskommen. Dann fehlt die produktive Unruhe, die Lebendigkeit, die erst durch Grenzüberschreitungen oder Regelwidrigkeiten möglich wird. Die Grenzen und Regeln unserer Exerzitien-Gruppe bestimmen wir zu einem großen Teil selbst. Sie sind anders geartet als bei Schweigeexerzitien. Die Herausforderung liegt nicht in der Zurück-gezogenheit, sondern mitten im Leben, auf der Straße eben. Unsere Gruppe besteht nicht aus „Machern“ und denen, die mitmachen. Unser Zusammenleben – bei Frühstück, Abendessen, Morgenimpuls, Gottesdienst und abendlicher Gesprächsrunde – funktioniert bei all unserer Verschiedenheit außerhalb dieser üblichen Denk- und Verhaltensmuster. Kein Schubladen-Denken mit seiner Endgültigkeit des Urteils und der oft vernichtenden Hierarchie. In der Gruppe leben wir im Grunde genommen dasselbe wie auf der Straße – dem/der Anderen, dem Andersartigen, in Gleichheit zu begegnen, wobei „gleich“ im Sinne von „gleichwertig“ oder „gleichberechtigt“ zu verstehen ist, nicht als Aufheben der Eigenheiten, des Andersseins.

Am Anfang unserer Exerzitien stand die Geschichte von Mose, der die Stimme aus dem brennenden Dornbusch hört. Er ist neugierig, nimmt sich Zeit und bleibt stehen. Er hört zu.
Ich habe Erwartungen und Vorstellungen, wie ich diese „Stimme aus dem Dornbusch“ hören müsste und kann es selten akzeptieren, wenn es nicht nach meinen Vorstellungen geht. Mein Symbol der Exerzitien ist deshalb ein Kieselstein, der sich auf den Wegen durch Berlin immer wieder eingschlichen hat. Kein gewaltiger Stein des Anstoßes, der ein Silvester-Gefühl der großen Vorsätze an das Ende dieser Tage setzt, nein. Ein winziger Stein, leicht zu übersehen, der mich dennoch zum Stehenbleiben zwingen konnte, zum Innehalten, Hinhören und -sehen. Ich musste und wollte mir Zeit nehmen für diesen Stein, dessen Reibung ich im Alltag so oft ignoriere, an dem ich mir manchmal die Füße wundtlaufe, bis es irgendwann nicht mehr weitergeht.