Berlin zog mir die Schuhe aus 2004

Sr. Klara Maria Breuer SMMP
veröffentlicht in: kontinente 1/2004, wir über uns

Respektvolles Sehen und Horen zu üben: Das war das Ziel der Straßenexerzitien in Berlin. Seit drei Jahren lädt die Gruppe „Ordensleute gegen Ausgrenzung“ zu diesen Tagen in der Hauptstadt ein. Und ich hatte mich gespannt darauf eingelassen, zu erfahren, dass die Metropole mit ihrem pulsierenden und gegensätzlichem Leben zu einem „Heiligen Ort“ der Gottesbegegnung werden kann.

Bei sonnigem Wetter führt mich der Weg am ersten Tag auf eine Parkbank im Kreuzbergviertel. Als Ordensfrau bin ich nicht zu erkennen. Ich trage Zivil. Nach einer Zeit setzt sich eine Türkin zu mir. „Ich lebe schon seit 40 Jahren hier“, erzählt sie mir. Ihre freundliche, warmherzige Art beschenkt mich und lässt mich die Schuhe meiner Vorbehalte ausziehen.

Die Schuhe ausziehen: Dieses Bild aus der Begegnung des Mose mit Gott am Brennenden Dornbusch zieht sich wie ein roter Faden durch die Tage. In dieser Geschichte offenbart sich Gott in dem dornigen, zunächst wenig einladenden Gewächs. Aus dem Dornbusch hört Mose den Anruf: „Zieh Deine Schuhe aus, denn der Ort, wo Du stehst, ist heiliger Boden.“ Christian Herwartz, Jesuit und einer der Begleiter der Straßenexerzitien, schloss dieses Bild gleich am ersten Tag auf: „Seine Schuhe ausziehen, das heißt: Sich nicht über andere erheben, die oft dornige Realität mit den nackten Füßen zu berühren, um darin die eigenen Verletzungen und Biestigkeiten, die eigenen und fremden Sehnsüchte und die Wege zu einem erfüllten Leben zu suchen.“

Ein einfacher Lebensstil hilft uns dabei, sich in diesen Tagen der Wirklichkeit am Rand stehender Personengruppen anzunähern. Unser Nachtquartier in Kreuzberg liegt im Keller des Gemeindezentrums St. Michael, der im Winter auch für Obdachlose offen steht. Zum persönlichen Gebet können wir die Pfarrkirche sowie die Kapelle der Siessener Franziskanerinnen in unmittelbarer Nachbarschaft nutzen. Die Mahlzeiten nehmen wir im Gemeinderaum ein. Hier treffen wir uns auch zum abendlichen Gottesdienst und Erfahrungsaustausch in Kleingruppen.
Vier Frauen und fünf Männer sind wir, die in dieser heißen Sommerwoche an den Exerzitien teilnehmen. Dazu kommen unsere Begleiter, zwei Jesuiten und zwei Ordensfrauen. Beim ersten gemeinsamen Frühstück sitzen wir mit Gästen zusammen, die den „Staffelstab“ sozusagen an uns übergeben. Der buddhistische Mönch Heinz-Jürgen sowie ein Mann und eine Frau berichten über Erfahrungen ihrer Besinnungstage. Sie hatten mehrere Tage wirklich auf der Straße gelebt. Den unschätzbaren Wert der Kommunikation ohne Worte erlebten sie: ein Blick, eine Geste. Das sollte auch ich in den kommenden Tagen erfahren.

Schmerzhafte Etappen

„Manchmal durchlaufen Sie dabei auch schmerzhafte Etappen der Selbsterkenntnis“ stand im Einladungstext der Organisatoren für die Exerzitientage. Die spüre ich bei der Begegnung mit der Türkin auf der Parkbank noch nicht. Aber bei dem Besuch der Suppenküche der Franziskaner für Obdachlose im Stadtteil Pankow am zweiten Tag meines Berlin-Aufenthalts.
Helfen will ich dort zunächst. Beim Gemüseputzen und Obst schälen. Aber diese „Schuhe“ werden mir ausgezogen. „Wir brauchen Sie nicht. Es sind genug Helfer da“, wird mir zu verstehen gegeben. Ich setze mich zu den Menschen, die auf die Essensausgabe warten. Und erfahre dort eine weitere wichtige Lektion dieser Tage: Eingeladen zu werden ist ein Geschenk. Wir können uns – bildlich gesprochen – nur auf den Marktplatz stellen, uns offen und bereit halten. Ob wir eingeladen werden oder nicht, ist nicht unsere Sache. Darauf machte uns Christian schon zu Beginn der Exerzitientage aufmerksam.

In der Suppenküche werde ich schließlich ganz konkret eingeladen. Martha, eine Frau von über 70 Jahren, spricht mich an, bittet mich, sich zu ihr zu setzen. Nach und nach geht mir das Geschenk dieser Begegnung auf. Nach dem Besuch der Suppenküche führt sie mich zu den Stationen ihres Alltags: dem Wohnungsamt, dem Bürgerpark, dem Kaffeetrinken für Senioren in der evangelischen Stadtmission. So öffnet sie mir den Weg, mit ihren Freunden und Freundinnen in Kontakt zu treten. Am dritten und vierten Tag bin ich in der Suppenküche fast schon eine „alte Bekannte“. Ich fühle ein wenig von ihren Sorgen mit, weiß allmählich, was es heißt, sich in diese Schlange einzureihen. Ich bin dankbar für die warme Mahlzeit und das belegte Brot. Ich spüre: Dies ist ein „heiliger“ Ort.

Einen anderen „Heiligen Ort“ finde ich am Grab des evangelischen Pastors Dr. Joachim Ritzkowski. Er hat ein Buch über das Leben mit Obdachlosen geschrieben. Eigentlich wollte ich ihm lebend begegnen. Aber in seiner Kirche erfahre ich von seinem Tod. Auf seine Initiative hin war von der Gemeinde eine Grabstätte für Arme und Obdachlose erworben worden. Er selbst wollte dort beigesetzt sein. Eine Frau führt mich schließlich dorthin. Übersät von Mohn- und Kornblumen lese ich über der Grabstätte ein Schild: „Ich lebe und Ihr sollt auch leben.“ So sagt mir dieser Fremde durch das Wenige, das ich von ihm erfahre, wie wertvoll mein Leben ist. Und genauso das der Menschen, welche die Suppenküche täglich besuchen. Wie Martha, die mir dort in diesen Tagen zur Weggefährtin wird. „Iss noch was“, bietet sie mir an, ihren Nachschlag Blumenkohlsalat mit ihr zu teilen. Ich zögere erst. Aber dann nehme ich die Einladung an. Sie ist ein tief empfundenes Geschenk.