[‚magis] Exerzitien

 

Berichte von der
[‚magis]-Experimentgruppe Fulda 1

Sr. Igna Kramp CJ:
Overcome your fears! – Exerzitien auf der Straße für junge Erwachsene

Sr. M. Teresa Jans-Wenstrup:
[‚magis] – ignatianische Experimente zum Weltjugendtag 2005

Michael Herwartz:
Eine erste e-Mail aus Köln – Die Erfahrungen von Fulda gingen weiter

Christian Herwartz:
Fremde werden zu Gastgebern – Das [‚magis]-Experiment in Fulda: Exerzitien auf der Straße

Vincent Lascève: Ein Teller im Kreis

PICTURES – FOTOS

 

Sr. Igna Kramp CJ
Go over your fears!
Exerzitien auf der Straße für junge Erwachsene

1. Straßenexerzitien als Experiment bei [‚magis]?

Rom, 1537. Eine Gruppe junger Pilger aus Spanien, Portugal, Frankreich und Savoyen nähert sich der Porta del Popolo. Es sind die Gefährten des hl. Ignatius, und einer von ihnen, Diego Laínez, zieht die Schuhe aus, weil er spürt: er betritt heiligen Boden.

Fulda, 2005. Eine Gruppe junger Pilger aus Taiwan, Frankreich und Texas auf dem Weg zum WJT in Köln wagt ein ignatianisches Experiment: Exerzitien auf der Straße. Sie machen sich mit der Geschichte des Mose vor dem brennenden Dornbusch auf den Weg, um innezuhalten, heiligen Boden zu erspüren und vielleicht – wie Laínez – die Schuhe auszuziehen.

Sie hatten sich nicht speziell für Exerzitien entschieden, sondern nur für ein Experiment im Rahmen des ignatianischen Vorprogramms [‚magis] zum WJT, mit der Grundmotivation also, mehr mit Gott zu (er-)leben. Kann man einer solchen Gruppe Exerzitien geben? Im Vorfeld hatten wir durchaus Bedenken: Würden die Teilnehmer sich überhaupt auf einen inneren Prozeß einlassen? Würden sie trotz der Vielsprachigkeit in der internationalen Gruppe in geistlichen Austausch über ihre innere Erfahrung treten? Wie würden die Leiter der ausländischen Gruppen auf die Einladung reagieren, als Exerzitanten mit in die Straßenerfahrung einzusteigen und sich von uns sechs deutschen Experimentleitern begleiten zu lassen? All dies ließ sich vorher nicht klar einschätzen – so war der Versuch, dieser Gruppe Straßenexerzitien zu geben, auch für uns ein Experiment.

2. Gott suchen in Fulda

Die Gruppe bestand aus sieben Franzosen, sieben Taiwanesen und neun Texanern. Die meisten von ihnen waren unter 20 Jahre alt, nur die Gruppenleiter und wenige Teilnehmer waren deutlich älter. Zu unseren Bedenken gesellte sich daher die Frage, wie so junge Menschen – wir hatten mit einem gemischten Klientel zwischen 20 und 30 Jahren gerechnet – auf die Straßenexerzitien reagieren würden. Fast alle Teilnehmer sprachen englisch, nur einige Taiwanesen konnten nur Chinesisch und waren somit fast rund um die Uhr auf ihren Gruppenleiter als Übersetzer angewiesen. Gebete, Organisation und Austausch fand somit drei- manchmal viersprachig statt. Dies brauchte zwar einen erheblichen Zeitaufwand und war anstrengend für die Übersetzer, spielte sich aber so gut ein, dass die Exerzitien davon nicht beeinträchtigt wurden. Dabei fungierten gerade die ausländischen Gruppenleiter vielfach als Übersetzer und entlasteten uns deutsche Begleiter erheblich. Alle drei waren sehr kooperativ und hatten ein großes Interesse, selbst an den Straßenexerzitien teilzunehmen.

Als Einstieg wollten wir einen Gottesdienst feiern. Wo sollte er stattfinden? Die klassische Antwort wäre für Fulda wohl „im Dom“ oder „in St. Michael“ oder „am Bonifatiusgrab“. Wir setzten einen anderen Akzent und begannen dort, wo wir sicher wissen durften, dass Christus da ist: im Gefängnis. Denn er hat gesagt: „Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen“ (Mt 25,36). Wir stellten die Geschichte des Mose dar, der seine Herkunft vergessen hatte, der den Dornbusch sieht und staunt, der die Schuhe auszieht. Dann luden wir die Teilnehmer ein, selbst die Schuhe auszuziehen und auf diesem Boden zu meditieren, in der Nähe oder Ferne zum Gefängnis, die einem jeden entsprach. Es war ganz still und eine sehr dichte Atmosphäre. Welche geistliche Vorbildung auch immer die Teilnehmer hatten, sie genügte offenbar, um unserer Einladung in die Stille zu folgen.

Beim Impuls am nächsten Morgen stand noch einmal die Geschichte des Mose im Mittelpunkt mit der Aufforderung, nun den ganz persönlichen heiligen Ort zu suchen. Wir erzählten von unseren eigenen Straßenerfahrungen: vom Betteln auf der Straße, vom Barfußgehen in der Psychatrie, vom Meditieren am Straßenstrich. Dann teilten wir eine Liste mit „möglichen“ heiligen Orten in Fulda aus: A. Der heilige Ort am Wegesrand; B. Verschiedene Orte vom Bordell über die Babyklappe bis zum Friedhof; C. Der heilige Ort in mir selbst. Es war klar, dass diese Liste helfen konnte, aber dass vielleicht der wichtigste Ort, den ich persönlich finden soll, wo mir Gott begegnen will, nicht darauf steht.

So gingen die Exerzitanten für etwa fünf Stunden ihrer Wege. Einige gingen allein, die meisten zu mehreren, einzelne ließen sich von uns begleiten. Wir forderten weder, dass die Teilnehmer allein gehen noch dass sie schweigen sollten. Am Nachmittag trafen wir uns wieder zur Eucharistiefeier und zum gemeinsamen Abendessen, das jeweils eine Nationalgruppe bereitete. Am Abend folgten dann die Austauschgruppen mit sieben bis acht Personen. Diese wurden jeweils von zweien von uns begleitet und sollten möglichst über die Sprachgruppen hinweggehen. Dies war dann auch tatsächlich der Fall. Wir bildeten eine französisch-englische und zwei englische Gruppen, davon eine mit dem taiwanesischen Gruppenleiter zur chinesischen Übersetzung. In allen Gruppen waren drei Nationalitäten vertreten. Entweder waren die englischen Sprachkenntnisse der Einzelnen gut genug, oder andere Teilnehmer halfen als Übersetzer. Diesen Tagesablauf behielten wird dann drei Tage lang bei, solange eben das [‚magis]-Programm Raum ließ.

3. Der Exerzitienprozeß

Die Teilnehmer stiegen gut in die Straßenexerzitien ein, wie ein sehr reger Austausch am Abend bezeugte, der gewöhnlich fast drei Stunden dauerte. Dies lag nicht nur an der Mehrsprachigkeit, sondern vor allem auch an der Intensität der Erfahrungen und an der Größe der Gruppe. Hinterher waren Begleiter wie Exerzitanten erschöpft, im Gespräch selbst war aber die Atmosphäre wiederum sehr dicht, und die Teilnehmer schlugen aus, mehr als nur eine kurze Pause zu machen. Es zeigte sich gerade im persönlichen Austausch, dass das Einlassen auf den inneren Weg keine Frage des Alters war. Vielfach waren sogar die Jüngeren besonders offen und hungrig nach Spiritualität, weil ihnen weniger gewachsene Einstellungen und Verhaltensmuster dabei im Wege standen.

Ganz ohne Vorgabe kehrte in die Gruppe eine gewisse Stille ein. Nicht im Sinne eines völligen Schweigens wie in Exerzitien gewöhnlich üblich, aber doch als Sinken des Gesprächs- und Geräuschpegels, spürbar besonders am Morgen. Viele suchten die Stille der Kapelle und der Kirche auf. Andererseits gab es auch eine Art Gegenbewegung, ein besonderes Lachen, das aber weniger Zerstreuung als vielmehr Spannung zeigte – ein Phänomen, das uns aus dem Noviziat oder auch aus Exerzitien bekannt war. Man möchte nicht lachen, und je mehr man es vermeiden will, desto schlimmer wird es.

Relativ viele der Exerzitanten gingen zu zweit oder zu dritt auf die Suche. Dies erwies sich aber insgesamt nicht als hinderlich für den Exerzitienprozeß. Es erleichterte eher, überhaupt die Suche zu wagen. Bisweilen fanden die Teilnehmer dann später auch den Mut, alleine oder zumindest gemeinsam im Schweigen zu gehen. Sie fanden sich durch freundschaftliche Beziehungen zusammen, aber durchaus auch über das gemeinsame Interesse an einem Ort des Suchens. Einmal bat eine Teilnehmerin zwei andere, die eine besondere Erfahrung gemacht hatten, am nächsten Tag mitgehen zu dürfen. Der gemeinsame Weg führte so weniger zur Zerstreuung als vielmehr zur gegenseitigen Bestärkung.

Es erwies sich als sehr effektiv, dass wir keine Vorgaben hinsichtlich Schweigen und Einsamkeit gemacht hatten, denn dadurch blieb es den Teilnehmern selbst überlassen, wie tief sie in den Exerzitienprozeß einsteigen wollten. Die meisten stiegen sehr tief ein, und so setzte für alle, die es wollten, eine Stille ein, die wir nicht vorgeschrieben hatten und die deshalb vielleicht umso bewusster erfahren werden konnte.

Gegen Ende der Straßenexerzitien besprachen jene von uns, die selbst die Großen Exerzitien gemacht hatten, welche Prozesse wir bei den Exerzitanten wahrnehmen konnten. Es stellte sich heraus, dass Elemente aus allen vier Wochen spürbar waren. Das einzige, was fehlte, war die Wahlzeit. Dies erklärte sich freilich aus der Kürze der Zeit. Obwohl sie im eigentlichen Sinne fehlte, konnte es Erfahrungen der dritten und vierten Wochen, von Passion und Auferstehung, geben, da ja die Grundentscheidung zur Nachfolge Christi bei den Exerzitanten in der Regel schon früher gefallen war, so dass auch die Folgen dieser Entscheidung im Mitleiden und Mitauferstehen gespürt werden konnten. Die inneren Bewegungen folgten keiner bestimmten Reihenfolge, da sie sich spontan aus der Straßenerfahrung ergaben.

Die Motive aus den einzelnen Wochen der Großen Exerzitien waren beispielsweise:

1. Woche
Gegenwart des Todes und Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit;
Bewusstsein innerer Angst,
Trauer über den Tod eines lieben Menschen,
Erkenntnis der eigenen Unfreiheiten,
Erkenntnis, dass ich Gott alles verdanke (Bettler lädt zum Essen ein);
Relativität des eigenen Urteils (Wer bin ich, einen Obdachlosen zu korrigieren?);
Erfahrung des Angenommenseins von Gott auch in der Ohnmacht.

2. Woche
Gott suchen in der Armut und Niedrigkeit (Inkarnation)
Bekenntnis zu Christus („Ich suche Gott!“)

3. Woche
Mitleiden mit den leidenden Menschen (Traurigkeit in den Augen des Bettlers)
Entscheidung, Christus zu folgen auch durch Widrigkeiten (z. B. Angst)

4. Woche
Im Tod ist Leben (Ostererfahrung auf dem Friedhof)
Trost, Frieden
Erfahrung, dass es frei macht, durch die Angst hindurchzugehen

Diese Darstellung erweckt den Eindruck, als entspräche der größere Teil der Erfahrungen der ersten Exerzitienwoche. Dies mag einerseits – entsprechend der Kürze der Zeit – durchaus zutreffen. Es ist jedoch zu bemerken, dass die Grunderfahrung der ersten Woche sich auf sehr viele verschiedene Weisen artikulierte, während die bei vielen Teilnehmern zum Abschluß der Exerzitien wahrnehmbare Erfahrung von Leben, Trost und Frieden sich weit mehr ähnelte und deshalb auf wenige Grundmotive zurückgeführt werden kann.

Mehrere Teilnehmer machten ihnen neue und bisweilen unerwartete Gebetserfahrungen, spürten Gottes Gegenwart auf nie gekannte Weise, probierten andere Gebetsweisen als sonst aus. Vereinzelt wurde ein „Fühlen mit der Kirche“ deutlich, so etwa in der Begegnung mit einem Obdachlosen, der – zum Leidwesen des Exerzitanten – über die Kirche schimpfte.

Einzelne blieben beim „disponer“, bei der Bereitung der eigenen Seele, stehen und traten nicht in den eigentlichen Exerzitienprozeß ein. Nach drei Tagen wurde ihnen – auch angesichts der bisweilen tiefen Erfahrung der anderen, über die ja in der Austauschgruppe gesprochen wurde – bewusst, wie sehr in ihrem Leben die Stille fehlte und sie sich an Gebet und Meditation eigentlich erst herantasten mussten.

Wie intensiv die einzelnen ihren Weg empfanden, mag nicht zuletzt dadurch deutlich werden, dass in einer gemeinsamen Schlussrunde aller Austauschgruppen fast nur jene etwas von ihrer inneren Erfahrung mitteilten, die älter und überwiegend an solchen Austausch gewöhnt waren. Die anderen hatten bewegend und voller Offenheit in der Zehnergruppe erzählt, wollten aber die noch zarten Bewegungen ihrer Herzen nicht in der Dreißigergruppe offenbaren. Zu nah, zu frisch war alles. Viele legten aber schweigend ein Symbol für ihren inneren Weg, das sie mitgebracht hatten, in die Mitte.

4. Straßenexerzitien als Chance

Unsere Erfahrung im Rahmen des [‚magis]-Projektes zeigt, dass es möglich ist, jungen Erwachsenen mit einer grundsätzlichen Offenheit für geistliches Leben Straßenexerzitien zu geben, auch wenn sie sich nicht ausdrücklich für Exerzitien entschieden haben. Viele der Jugendlichen kamen durch das Experiment zum ersten Mal mit Exerzitien, Gebetserfahrung in dieser Intensität und geistlicher Begleitung in Berührung. Ihr Hunger nach spiritueller Erfahrung wurde vielleicht erst so richtig wach, da sie einen Raum fanden, in dem Gott ihn stillte. Der grundsätzlich berechtigte Einwand, Exerzitien setzten eine Spezialmotivation voraus, kann somit nicht aufrechterhalten werden.

Die Freiheit des Einzelnen, seinem Maß entsprechend in die Exerzitien einzusteigen oder eben auch nicht einzusteigen, bleibt durch die Form der Straßenexerzitien gewahrt. Wer nicht meditieren möchte, kann sich anders beschäftigen – es geht nicht um fünf Stunden Sitzen auf dem Meditationshocker, sondern um fünf Stunden in der Stadt. Nach unserer Erfahrung führte diese Freiheit aber gerade nicht zur Zerstreuung, sondern erleichterte nur den Einstieg in die Exerzitien, weil die Motivation bei den jungen Menschen sehr viel mehr da war, als wir erwartet hätten. Sie wollten einsteigen, und sie konnten es auch, weil eben keine große Erfahrung mit persönlicher Meditation erforderlich war, sondern in dem Maße erworben werden konnte, wie es den einzelnen Exerzitanten entsprach.

Dabei hat sich die von [‚magis] vorgegebene Zeit von einem Einstiegstag und drei eigentlichen Exerzitientagen sowie einem Aufbruchstag als günstig erwiesen. Es war für diejenigen Teilnehmer, die es wollten, lange genug, um auf den Geschmack zu kommen. Für jene aber, die sich nur zaghaft einließen, war es nicht so lange, dass sie unzufrieden gewesen wären. Für Einzelne wäre es wünschenswert gewesen, dass sie den begonnenen inneren Weg hätten weitergehen können. Für die ganze Gruppe aber wäre dies möglicherweise eine Überforderung gewesen und hätte tatsächlich die Entscheidung aller Teilnehmer für Exerzitien erfordert.

Die Einladung, die Schuhe auszuziehen und den ganz persönlichen heiligen Boden zu erspüren, fiel bei den Teilnehmern von [‚magis] auf äußerst fruchtbaren Boden. Was in den Exerzitien von Gott her gesät wurde, wird wachsen – in Deutschland, Frankreich, Taiwan und Texas. Das sollte uns Mut geben, Exerzitien auf der Straße nicht nur Menschen zu geben, die ausdrücklich danach verlangen, sondern gerade auch jungen Menschen, die nach Spiritualität hungern, aber noch gar nicht auf den Gedanken gekommen sind, Exerzitien zu machen. Es kann sie neugierig machen, warum der Dornbusch brennt und nicht verbrennt.

 

Sr. M. Teresa Jans-Wenstrup
[‚magis] – ignatianische Experimente zum Weltjugendtag 2005

Von einer ganz besonderen Erfahrung im Zusammenhang mit dem Weltjugendtag möchte ich erzählen. Die Jesuiten und andere ignatianische Gemeinschaften wollten der ignatianischen Spiritualität entsprechend versuchen, im Rahmen der Großveranstaltung Weltjugendtag eine Form zu finden, in der einzelne Menschen einen persönlichen geistlichen Weg gehen können. Daraus wurde [‚magis] – das lateinische Wort bedeutet „mehr“ und ist ein zentrales Wort des heiligen Ignatius, der Christus immer mehr lieben und ihm mehr folgen wollte.

Um dieses Mehr der Liebe Gottes persönlich zu erfahren, hatten sich fast 3000 junge Leute für [‚magis] angemeldet. Sie kamen in verschiedenen Städten Deutschlands an und wurden in Gruppen von 20-30 aus je drei/vier Nationen zusammengestellt. Diese Gruppen gingen nun für fünf Tage einen gemeinsamen geistlichen Weg. Viele dieser Gruppen machten sich auch real auf einen Pilgerweg, andere näherten sich von der kreativen oder musischen Seite der ignatianischen Spiritualität, wieder andere suchten Gott durch Erfahrungen im sozialen Bereich. Allen gemeinsam war eine Tagesstruktur aus gemeinsamen Gebetszeiten, dem täglichen geistlichen Austausch und Tagesrückblick.

Ich hatte die Freude, zusammen mit einigen anderen Deutschen eine [‚magis]-Experimentgruppe zu begleiten, mit der wir in der Stadt Fulda sogenannte Exerzitien auf der Straße gemacht haben. In unserer Gruppe waren 7 Teilnehmer aus Frankreich, 7 aus Taiwan und 9 aus Texas/USA. Für mich waren diese Tage eine tiefe geistliche Erfahrung. Besonders schön war es zu erleben, mit welcher Ernsthaftigkeit die jungen Leute in diesen Tagen Gott suchten. Wir hatten unser Quartier in den Räumen der Gemeinde St. Andreas, einem früheren kleinen Benediktinerkloster gefunden, wo wir in zwei Räumen auf dem Boden schliefen und die Teilnehmer abwechselnd für alle das Essen vorbereiteten – oft mit landestypischem Charakter.

Wir begannen die gemeinsamen Tage mit einem Gottesdienst vor dem Gefängnis der Stadt, in dessen Mittelpunkt die Geschichte von Mose am brennenden Dornbusch stand. Mit Mose zusammen lernten wir aufmerksam zu sein und neugierig zu werden auf Gottes Gegenwart im Unscheinbaren, vielleicht sogar zuerst Abstoßenden (ein Dornbusch in der Wüste!) und zu lauschen, wo Gott uns anruft, wo unser Herz zu brennen anfängt an einem Ort, an dem wir vielleicht überhaupt nicht mit ihm rechnen. Dort im Dornbusch ruft Gott Mose beim Namen und fordert ihn auf, seine Schuhe auszuziehen, weil es ein heiliger Ort der Gegenwart Gottes sei. Während wir hier vor dem Gefängnis standen, zogen auch wir unsere Schuhe aus und verweilten in Stille in der Gegenwart Gottes, für den das Gefängnis einer der bevorzugten Orte ist (vgl. Mt 25). Es war eine ganz tiefe Atmosphäre des gesammelten Schweigens und des Gebets.

Ausgehend von diesem gemeinsamen Auftakt gingen in den folgenden Tagen alle Teilnehmer mit der Aufmerksamkeit und Neugier des Mose in die Stadt mit der Bitte, dass Gott ihnen ihren persönlichen heiligen Ort seiner Gegenwart zeigen möge. Da betete z.B. eine an der sogenannten „Babyklappe“, einem Ort, wo verzweifelte Mütter anonym ihr neugeborenes Baby abgeben können. Und sie begegnete dort ihrer eigenen Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit und auf dem Grund dieser Sehnsucht dem Gott, der allein letztlich diese Sehnsucht stillen kann.

Oder eine andere war tief berührt von der Blumenfülle auf dem Friedhof gegenüber und erfuhr darin mit überraschender Sicherheit, wie ihr Glaube an die Auferstehung lebendige Realität wurde. Wieder ein anderer wurde von Obdachlosen in die Armenküche eingeladen und erlebte mitten in ihrer Gastfreundschaft Gott selbst als den, der ihn unabhängig von aller Leistung in seine Liebe einlädt und er zog hier mitten zwischen den Menschen seine Schuhe aus in Ehrfurcht vor Gottes Gegenwart.

An jedem Abend trafen wir uns in drei Kleingruppen und jeder erzählte von seinem Suchen und Finden am vergangenen Tag. Wir hörten einander zu und halfen uns gegenseitig in den Erfahrungen Gottes Spuren zu entdecken. Indem wir Sehnsucht, Schmerz und Freude – über alle Sprachbarrieren hinweg – miteinander teilten, erfuhren wir diesen heiligen Boden auch in der Austauschrunde selbst. So gingen wir durch die Tage einen geistlichen Weg miteinander, der immer wieder in den Gottesdiensten einen Höhepunkt fand und auf dem wir als Gruppe immer mehr zusammen wuchsen.

Nach fünf intensiven Tagen in der Gruppe machten wir uns am 13. August auf den Weg zur Loreley, einem Felsen am Rhein, wo wir die anderen [‚magis]-Gruppen trafen. Dort lebten wir noch zwei Tage in einem riesigen Zeltlager und setzten aus den Erfahrungen der ca. 3000 Teilnehmer in den 100 Experimentgruppen ein riesengroßes Mosaik zusammen, das die lebendige Fülle der Gottesbegegnungen zeigte. Dieser Abschluss war wunderschöne und zugleich eine große Herausforderung, weil es fast durchgehend regnete und die Gottesdienste trotzdem draußen stattfinden mussten. Aber die Freude an Gott und aneinander in dieser kulturellen Vielfalt ließ sich nicht unterkriegen.

Zugleich machte uns der Regen anschaulich deutlich, dass jemand, der sich auf Gott einlässt, mit mehr zu rechnen hat als mit oberflächlichen Sonnenschein-Events. So war neben der Erschöpfung überall große Dankbarkeit und Freude spürbar, als sich schließlich alle in einer großen Prozession auf den Weg machten vom Felsen herunter bis an den Rhein, dort zwei Schiffe bestiegen und in einer ca. vierstündigen Fahrt auf dem Fluss zum eigentlichen Weltjugentag nach Köln fuhren. Dort gingen dann die persönlichen Glaubenserfahrungen der Einzelnen ein in das Glaubensfest der Hunderttausende.

Mehr Infos und Fotos über [‚magis] findet ihr (in verschiedenen Sprachen) auf der Website:
www.magis2005.de

 

Michael Herwartz
Eine erste e-Mail aus Köln
Die Erfahrungen von Fulda gingen weiter

Auf der Loreley bin ich ja mit dem Auto angekommen. Ich weiß also nichts über die Zugfahrt, nur, daß die Bevölkerung von St. Goarshausen am Bahnhof Essen ausgegeben hat für alle Pilger, die dort ankamen. Anscheinend einfach so. Von dort aus mußten alle mit dem Gepäck den Berg herauf. Das war wohl recht anstrengend. Oben standen Zelte bzw. wurden ausgegeben. (Sehr leichte Bauart, wurden später verkauft, waren aber auch nicht so ganz dicht. Und es war ein Glück, daß kaum Wind wehte. Beim Testlauf waren die Zelte wohl fortgeflogen.) Nach dem Aufbau wurde den „Exgruleis“ nochmals gedankt. Ich kann den Dank also nur weiter geben.

Mir fiel bei dieser kurzen Veranstaltung aber auch überhaupt immer wieder die offenen, klaren Gesichter auf, beinahe jeden Einzelen hätte ich auf Anhieb gerne näher kennen gelernt. Das gilt auch für die Teilnehmer. Es herrschte eine gelöste (?) Stimmung, sehr viel Freude. Am Abend gab es eine Veranstaltung mit Singen von Liedern (ich weiß nichts genaues, ich habe nicht teilgenommen) danach die Möglichkeit, am Lagerfeuer zu sitzen und zu erzählen. Das wurde reichlich angenommen. Beinahe durchgehend gab es ein „Nikodemus“-Angebot (Gespräche, Beichte… in verschiedenen Sprachen), ein kleines Zirkuszelt als Ort der Stille.

Morgens ging ich Duschen. Dazu mussten die Männer ziemlich weit über einen Hügel laufen. Die Entschädigung war, den Platz so von oben sehen zu können.
Man mag über Massenaufläufe denken was man will: Der Blick von oben auf dieses große Lager in Verbindung mit der Stimmung, die dort herrschte und der Erinnerung an Fulda, an die Teilnehmer, die ja ernsthaft dabei waren, an die Erlebnisse, Geschenke von dort und dem Wissen, daß die anderen Gruppen ja auch ernsthaft auf dem Weg waren, also diese Masse an ernsthaften und fröhlichen, gelösten SucherInnen, an die vielen Organisatoren, Gruppenleiter…: Das war überwältigend.

Das Morgengebet war in einer Freilichtbühne. Die Teilnehmer saßen auf den Steinen. Es regnete mal mehr mal weniger. Die Vorbeter, Übersetzer, ein Chor, und eine Band waren auf der Bühne geschützt und trocken. Es wurde ziemlich lang und es war naß und kühl. Trotzdem eine recht heitere Stimmung. Als dann danach auch noch der Chor in den Regen trat und dort weiter sang und tanzte, war die Stimmung endgültig gerettet.

Weiter gings in Zelten. Alle Gruppen bekamen die Aufgabe, ein Puzzle zusammenzusetzen, das dann wiederum ein Puzzleteil in einem Gesamtwerk war. Jedes Gruppenmitglied beschrieb sein Puzzleteil auf der Rückseite vorher mit einem Gebet, einem Wunsch o.ä., so daß das Bild eine Summe von Wünschen, Danksagungen … wurde. Je mehr Gruppen fertig waren, desto mehr wurde gesungen, getanzt.

Eigentlich wollte ich noch an der gemeinsamen Messe teilnehmen. Ich habe mich dann aber entschieden früher zu gehen, weil ich von dieser Freude etwas in meine Gemeinde mitbringen wollte.

Ich habe nach der Messe in meiner Heimatpfarrei kurz von Fulda und der Loreley erzählt. Muss ich wohl nicht so geschickt gemacht haben, jedenfalls sah ich keinen Funken überspringen.
Ab Montag dann WJT in Köln. Ich habe an keiner Veranstaltung teilgenommen, sondern nur durch Beherbergen von Gästen. Außerdem war ich zwei Mal in Köln. Und Igna hat mich besucht. Darüber bin ich jetzt noch froh.

Die Organisation knirschte an allen Ecken und Enden. Aber das war nicht anders zu erwarten. Daneben waren viele Einheimische überrascht von der Fröhlichkeit und gleichzeitig der Disziplin der Pilger. Und das wirkte auch auf Leute, die mit der Kirche nichts zu tun haben. Ein Mann der KVB (Verkehrsbetriebe): „Wir sind sehr erstaunt. Wir brauchen die Busse abends mal gerade durch zu fegen, dann können wir sie wieder benützen. Da liegt kein Müll, da ist nichts kaputt. Ganz anders als bei einem Fußballspiel oder anderen Großveranstaltungen.“ Ähnliche Reaktionen bei der Polizei, bei Bewohnern der Stadt und auch bei unserem Ort: Hier waren in einer Schule 1500 Pilger unterbracht (in den anderen Schulen weitere), bei einer Handvoll Volunteers. Es gab keinen Streß. In Köln und Umgebung: Keine Schlägerei, kein Alkoholmißbrauch, nichts von dem, was man eigentlich hätte erwarten können.

Sicher wird es eine ganze Reihe von Pilgern gegeben haben, die halt mal den Papst sehen wollten oder die an einem Massen-Event teilnehmen wollten. Aber das große Bild sah anders aus: Ernsthafte junge Leute, die nicht Halligalli wollten, sondern auf der Suche sind, die morgens aufstehen um an der Morgenandacht teilzunehmen, sich in Gruppen dem Gespräch mit Katecheten stellen, und die dabei gut drauf sind. Und damit haben sie sich in Köln und Umgebung einen sehr hohen Respekt verdient und eingehandelt.

Mein Gefühl von der Loreley (Da sind viele, die erleben, daß Aufbruch möglich ist, und damit wird auch die Möglichkeit einer Veränderung der Welt sichtbar, erlebbar) dürften in Köln (und Bonn und Düsseldorf und der Umgebung) viele gefühlt haben. Diese Veranstaltung hat wohl vielen Mut gemacht.

 

Christian Herwartz
Fremde werden zu Gastgebern
Das [‚magis]-Experiment in Fulda: Exerzitien auf der Straße

Vor langer Zeit, als die Planung der ignatianischen Gemeinschaften für ein Vorprogramm – es wurde [‚magis] genannt – zum Weltjugendtag 2005 in Köln begann, also wohl im Jahr 2003, habe ich mir spontan gewünscht, bei der Begleitung eines der Experimente dabei zu sein. Bald stießen auch andere dazu: Sr. Teresa, Sabine, Sr. Igna und andere. Wir wollten Exerzitien auf der Straße anbieten, ohne zu wissen, wie sie in dieser neuen Situation angestoßen und begleitet werden könnten. So war dann ein Vortreffen mit anderen [‚magis]-Interessierten in Altenberg 2004 sehr ernüchternd. Es gab eine Menge Vorgaben, die mit unserem Anliegen nicht in Einklang zu bringen waren. Andererseits waren wir sehr froh über die Arbeit des [‚magis]-Teams in Frankfurt. Sie hatten von ihrer Aufgabe her einen anderen Blickwinkel und mußten Rahmenbedingungen für alle Experimente entwickeln. Exerzitien schienen in diesem Rahmen nicht möglich zu sein.

Doch wir gaben unser Anliegen nicht auf und wollten auch unsere Erfahrungen nicht verraten, dass es bei Exerzitien auf der Straße wie bei allen Exerzitien ganz wichtig ist, dass alle am Abend von ihren Erfahrungen am Tag erzählen können. Dazu braucht es kleine Gruppen mit BegleiterInnen, am besten zwei pro Gruppe. Aber so viele BegleiterInnen waren pro Experiment bei [‚magis] nicht vorgesehen. Außerdem, welche Aufgabe sollten die Begleiter der Landesgruppen bei einem solchen Experiment haben?

Wir blieben trotz all der Fragen zuversichtlich und trafen uns zu viert Anfang Januar 2005 in Fulda, dem Ort, der uns als Ankunftsort zugewiesen war. Dort steht eine Schule der Maria Ward Schwestern, in der alle ankommenden TeilnehmerInnen die erste Nacht untergebracht werden sollten. Wir fanden eine sehr herzliche Aufnahme durch die Schwestern der Congregatio Jesu.

Aber es gab noch eine zweite sehr herzlich Aufnahme: Oft hatte ich in Berlin von dem Pfarrer Winfried Abel in St. Andreas in Fulda gehört. Die Kirche liegt der Stadt gegenüber auf der anderen Seite des Flusses. Kirche und Pfarrgebäude stammen von einer alten Benediktinerabtei. Zu Pfingsten treffen sich in dieser Pfarrei jeweils etwa 100 Menschen aus Hoch- und Freikirchen, die in ihrem Leben eine soziale und meist auch religiöse Bekehrung erlebt haben. Die Emmausgemeinschaft sammelt Menschen mit Erfahrungen aus Gefängnissen, Kinderheimen, Drogen, Alkohol und vielen anderen oft abgeschriebenen Lebenssituationen. Hier können sie über alle Konfessions- und Sozialgrenzen hinweg Gott preisen und einander beistehen. An diesem gastlichen Ort durften wir nun auch die Menschen aus unterschiedlichen Ländern zu Exerzitien auf der Straße empfangen.

Wir suchten Pfarrer Abel auf und nach einigen Minuten verstand er unser Anliegen, noch bevor wir es ausgesprochen hatten. Er machte alle Türen der Pfarräume auf und sagte, dass wir alles nutzen könnten. Dann nahm er uns in seine Wohnung mit, stellte uns die dort wohnende Schwester Maria Veronika vor und schenkte uns jeweils eine Kassette, die wir uns aus seinen 100 Vorträgen zu religiösen und ethischen Fragen aussuchen konnten. Ein schöner Dienst weit über die Pfarrgrenzen hinaus.

Doch wie konnten wir uns auf unser [‚magis]-Experiment über die Quartierfrage hinaus vorbereiten? Die Exerzitien sollen mit einem Gottesdienst vor dem Gefängnis beginnen, legten wir fest, vor diesem großen Tabernakel, in dem Jesus auf jeden Fall anwesend ist, wie er gesagt hat. Auch in der Kirche ist ja der Tabernakel eine kleine Zelle wie im Gefängnis, die nur von außen zu öffnen ist. Außerdem war uns klar, dass wir bei bis zu 30 TeilnehmerInnen, wie im [‚magis]-Programm zu lesen war, mindestens für vier Gruppen acht BegleiterInnen brauchen würden. Wir fanden sie bald, ohne zu wissen, ob alle wirklich in einigen Monaten Urlaub bekommen könnten. Studienende, Arbeitslosigkeit, … machten Voraussagen ungewiß.

Im Frühjahr trafen wir uns nochmals kurz in Berlin. Auch dieses Treffen ermutigte uns. Mitten in allen Ungewissheiten fanden wir eine große Ruhe und wickelten die [‚magis]-Formalitäten so gut wir konnten ab. Wir hatten einfach weniger Aufwand als die Pilgergruppen, die nach unterschiedlichen Quartieren, Fahrgelegenheiten, usw. suchen mussten. Diese Ruhe verwunderte manchmal sehr. War da nicht ein Schuß Überheblichkeit drin? Aber es ging nicht anders, wir konnten nicht mehr planen, wenn wir die Exerzitien ernst nehmen wollten.

Am Tag vor der Anreise der [‚magis]-Gruppen waren ein Teil der BegleiterInnen – Michael und Claudia waren noch dazu gekommen – schon in Fulda, sahen sich die Stadt an, wurden miteinander warm und bereiteten dann am Montag – den 8. August 2005 – das Mittagessen für Dienstag – unseren ersten Tag – in St. Andreas vor.

Dann kamen nachmittags und abends 150 Teilnehmer in die Schule. Es war eine große Freude die vielen offenen Gesichter zu sehen. Menschen aus Kroatien, der Slowakei, Frankreich, Taiwan und Texas, wenn ich mich recht erinnere. Sie waren voller Erwartung, schrieben sich in die Listen ein und bekamen einige Materialien, wie das Pilgerbuch von [‚magis]. Dort hat mich besonders am Anfang des Buches das [‚magis]-Gebet (siehe Anhang) angesprochen, in dem die eigene Bereitschaft zu hören recht eindringlich ausgedrückt wird. Auch das Lied „Here I am, Lord“ konnten wir gut nutzen. Andere Hilfen für die Pilgergruppen erinnerten uns an die größere [‚magis]-Gemeinschaft, in dem wir unseren Weg gingen und sie waren eine Fundgrube für das persönliche Gebet.

Am nächsten Morgen nach dem Aussendungsgottesdienst auf dem Michaelsberg waren die sechs Experimentgruppen frei für ihre unterschiedlichen Wege. Die Freude darüber war deutlich zu spüren. Mit einem schönen Blick über Fulda verabschiedeten wir uns voneinander und verabredeten uns für das Treffen auf der Loreley am Samstagabend. Vier Gruppen pilgerten auf verschiedenen Wegen Richtung Loreley und eine fuhr nach Würzburg, um dort Orte der Zerstörung und des Lebens in Würzburg aufzusuchen.

„Fulda 1“, so wurde unsere Gruppe genannt, in der 9 Texaner/innen, 7 Taiwaner/innen und 7 Französinnen/Franzosen – begleitet von einer jüngeren Theologin, einem Jesuiten-Pater und einem -Novizen – zusammen einen Weg gehen wollten. Viele hatten sich genau dieses Experiment gewünscht und waren froh, dass dies möglich sein sollte. Ein junger Texaner dankte beim ersten Tischgebet dafür, dass sie hier in Fulda neue religiöse Erfahrungen machen dürften. Schnell wurde auch deutlich, dass die GruppenbegleiterInnen selbst gerne Exerzitien machen und nicht auf eine begleitende Aufgabe festgelegt werden wollten. Sie suchten die Egalität und ließen teilweise andere Sprecher wählen. Aber besonders Po-Jen Wu, ein Jesuit aus Taiwan, musste bei den Treffen oft übersetzen und war mit diesem Dienst eine wichtige Stütze auf dem Weg.

Alles Gepäck unserer Gruppe hatten wir in das Auto von Michael eingeladen und konnten so nach dem Aussendungsgottesdienst jeweils zu fünft ohne Eile durch Fulda bummeln und zwei, drei Orte aufsuchen, um einen Eindruck von der Stadt zu bekommen. In St. Andreas fanden wir uns zum Mittagessen ein – wir hatten die Tische in dem Saal in einem großen Karré aufgestellt – und bezogen dann unser Quartier. Am Nachmittag begrüßte uns der Pfarrer und jeder stellte sich mit seinen Anliegen vor. Es war eine Runde der Dankbarkeit hier sein zu dürfen. (Einen ähnlichen Eindruck hatte ich auch von den TeilnehmerInnen, und BegleiterInnen der anderen Gruppen am Abend vorher.)

Der erste Tag

Um 18 Uhr begannen dann die Exerzitien mit einem Gottesdienst vor dem Gefängnis in Fulda. Wir hatten beim Ordnungsamt eine Kundgebung mit dem Titel „Ehrfurcht vor unseren gefangenen Brüdern und Schwestern“ an einem Ort angemeldet, der uns jetzt ungünstig erschien. Freundlicherweise erlaubte uns eine Frau, auf ihr Grundstück zu kommen. Nun lag das ganze Gebäude vor uns und wir sahen auch Gefangene, die uns zuwinkten. Bald kam die Frau und brachte einen Stuhl für Sabine, eine der Begleiterinnen, die hochschwanger war. Ein schönes Zeichen des Willkommens.

Zentral bei diesem Gottesdienst war das Erzählen der Geschichte, wie Mose beim Hüten der Ziegen seines Schwiegervaters einen brennenden, aber nicht verbrennenden, Dornbusch sah. Er ging hin, wurde dann aber aufgehalten und sollte seine Schuhe ausziehen, weil der Ort heilig sei (Ex 3). Diese Geschichte mitten aus dem Alltag beschreibt das Vorgehen bei den Exerzitien auf der Straße. Es geht um die Frage: Wo mag der heilige Ort für jeden Einzelnen sein, an dem Gott mit ihr/ihm reden will? Wo wartet Gott auf mich? Welche Schuhe der Distanz, des Besserseins, der Flucht, … sollten wir ablegen. Als wir dann alle vor dem Gefängnis ohne Schuhe standen, wurde es ganz still. Nach einiger Zeit der Meditation begannen einige laut zu sprechen und beschrieben den dornigen Ort, an dem wir standen. Eigene Not wurde ausgesprochen, aber vor allem der Schmerz über die Gewalt der Ausgrenzung, die an diesem Ort so greifbar ist. Es war ein Gebet in vielen Sprachen. Bei diesem vorsichtigen Besuch der Gefangenen hinter der Mauer hatte das [‚magis]-Gebet einen besonderen Klang.

Dann kam die gastgebende Frau wieder, um den Stuhl abzuholen. Sie dankte uns – auch im Namen ihrer 92jährigen Mutter, die mit ihr während des Gebetes mitten unter uns auf dem Balkon war -, dass wir hier einen Gottesdienst gefeiert haben und dass sie dabei sein durften.

Nach diesem Einstieg in die Exerzitien gingen wir in einen Park in der Nähe und suchten einen Platz, damit sich alle lagern könnten. Dabei mußten wir über einen kleinen Weg gehen, der von einer Gruppe belegt war, die dort ihr Bier trank. Die Männer sprachen uns an und einige von uns blieben, um sich mit ihnen zu unterhalten. Als sie nachkamen, fragten wir sie nach ihren Erfahrungen mit den Menschen, die im Alkohol gefangen sind. Welche Schuhe mußten sie in der Begegnung mit ihnen ausziehen, um auf sie hören zu können? Sie erzählten ausführlich und wir konnten schon einmal mitbekommen, um welchen Erfahrungsaustausch es in den drei Exerzitiengruppen an den Abenden gehen würde. Wir stellten uns als BegleiterInnen für die einzelnen Gruppen vor und erklärten den Ablauf des nächsten Tages. Damit die drei parallelen Austauschrunden beginnen konnten, sollten sich alle für eine Gruppe entscheiden. Außerdem baten wir darum, dass immer einige für uns alle das Abendessen kochen mögen.

Zuhause waren die entsprechenden Listen schnell ausgefüllt. Am ersten Abend wollten die Franzosen, dann die Taiwaner und zum Schluß die Texaner kochen. Einen Laden für asiatische Lebensmittel hatten wir neben dem Gefängnis schon gefunden.

Die sehr schöne alte Pfarrkirche war für uns vom Kreuzgang aus Tag und Nacht offenen, zum persönlichen Gebet, aber auch zum spontanen gemeinsamen Singen von religiösen Liedern, zu dem sich die Begleiterinnen gern trafen.

Der zweite Tag

Nach dem Frühstück fanden wir uns um 9 Uhr zum Morgengebet in der Kirche ein. Im Mittelpunkt stand der Text aus Ex 3, den wir vor dem Gefängnis gespielt hatten. Nach dem Gebet verteilten wir eine Liste, die den TeilnehmerInnen helfen sollte, heilige Orte in Fulda zu finden. An einem waren wir ja schon gemeinsam: vor dem Gefängnis. Auf dem Blatt standen Treffpunkte von Obdachlosen und Drogenabhängigen, die Suppenküche, das Sozial- und Arbeitsamt, das Bordell, die Geriatrie, die Babyklappe, ein Altenheim, die Psychiatrie, ein Behindertenheim, die Pestsäule, der israelische Friedhof und andere. Die Orte, an denen sich ihre Herzen bewegen würden, konnten wir ihnen natürlich nicht sagen. Gottes Einladungen sind unplanbar. Auf sie stoßen wir meist scheinbar zufällig, entdecken sie in der Offenheit des Gebetes. Diesen Hinweis hatten wir dick unterstrichen. Neben all diesen möglichen Orten, die im Stadtplan zu finden sind, gibt es jeweils auch einen heiligen Ort in uns selbst, an dem wir aufgefordert werden, in Achtung vor der Gegenwart Gottes in uns, die Schuhe auszuziehen. Auch auf diesen Ort wird auf dem verteilten Blatt hingewiesen.

Wir forderten die Teilnehmer auf, die Liste in den Sprachgruppen durchzugehen und dem nachzuspüren, wohin jede/r Einzelne allein oder mit anderen zusammen aufbrechen wollte. Wir waren bereit mit kleinen Gruppen eine Stunde mitzugehen, wenn dies gewünscht würde, um in die Praxis der Meditation auf der Straße hineinzufinden. Zwei kleine Gruppen machten von diesem Angebot Gebrauch.

Um 15.30 Uhr trafen wir uns in der Kirche zu einer Eucharistiefeier mit Po-Jen Wu aus Taiwan. Wir wählten als Evangelium den Text über die Aussendung der 72 Jünger und erklärten die einzelnen Anweisungen, unter denen auch das Zurücklassen der Schuhe zu finden ist (Lk 10,1-6). Die Tageserfahrungen konnten sich an diesem Text reiben und Bestätigung finden.

Abends hatte die französische Gruppe die Tische in zwei Reihen gestellt, weil wir uns beim Essen gegenüber sitzen sollten. Sie haben uns wunderbar bekocht und dann gab es zum Schluß auch Crêpes für alle. Die französische Fahne hatte als Dekoration einen zentralen Ort.

Danach war viel Zeit für die Austauschgruppen. Sie waren alle – ohne Nachhilfe – aus TeilnehmerInnen aller drei Sprachgruppen zusammengesetzt. So mußte immer wieder übersetzt werden, auch wenn sich viele in Englisch ausdrücken konnten. Die Übersetzung übernahmen meist die Teilnehmer selbst. Manches blieb trotzdem für mich unverständlich. Dies beeinträchtigte aber überaschenderweise die Begleitung nicht. Ich erkläre mir das damit, dass ja zum einen Exerzitien „Chefsache“ sind, also Gott selbst mit den Einzelnen einen Weg geht, und zum anderen deutlich wird, dass die nonverbale Kommunikation immer einen sehr viel größeren Anteil hat als die verbale – auch bei der Exerzitienbegleitung. Die Offenheit des Herzens ist wie bei den Übenden auch bei den Begleitenden entscheidend. In dieser Haltung wird das mangelnde verbale Verstehen ausgeglichen und eine fruchtbare Begleitung ist möglich.

Wie sehr es um eine Begleitung mit den Herzen ging, wurde in dieser Situation besonders deutlich. Von dieser Melodie der Liebe konnten wir uns mehr und mehr tragen lassen und Hindernisse unserer Klugheit oft unbemerkt überspringen. Die Liebe kennt ja viele Wege, die Beziehungen vor Gott auszudrücken. Manchmal in einer Frage, die dann weiter hilft, in einer Erzählung oder einem beistehenden Gebet der Austauschrunde. In dieser sprachlich armen Situation konnten die Augen besonders deutlich sprechen.

Vier Orte sind mir in den Erzählungen besonders aufgefallen:
Die Babyklappe: Hier konnte der respektvolle Abstand gut geübt werden, der in der Meditation für jede/n neu zu finden war: auf der anderen Straßenseite, auf den Stufen dorthin, ganz in der Nähe. Das aufnehmende Kinderbett war von weitem zu sehen. Schriften lagen bereit. Wo wird die Nähe bedrückend, mein Verhalten touristisch, wie kann ich mich verhalten, dass mir Gott hier an diesem Dornbusch etwas in mir aufdecken und sagen kann?

Das Bordell: Nach diesem Ort suchten mehrere, aber sie haben ihn nicht gefunden. Wenn dies dann akzeptiert wurde, konnte oft mit größerer Freiheit weitergegangen werden, um sich wirklich überraschen zu lassen.

Bettler vorm Dom und anderswo: In ihrem Umfeld fanden viele bewegende Erfahrungen statt, wenn die TeilnehmerInnen sich in ihre Nähe setzten. Sie wurden mit Bildern beschenkt, zum Essen in die Suppenküche eingeladen und am vorletzten Tag haben sie einige zum Gottesdienst und Essen zu uns eingeladen. Die Distanz war überwunden und sie konnten sich gegenseitig als Boten Gottes erkennen.

Friedhöfe: „Ihr macht die Friedhöfe zu einem Garten Gottes mit vielen Blumen; sie erinnern ans Paradies“, sagten mehrere. Besonders deutlich wurde dies auf dem Friedhof gegenüber erfahren, wo auf der einen Seite kahle Gräber der Bombenopfer sind und auf der anderen Seite blühten viele Blumen auf den Grabstätten der letzten Jahre. Dieses Naturerlebnis forderte heraus, so dass einige hier verweilten, in der Bibel lasen und tiefen Frieden fanden.

Viele waren den Tag über zu zweit oder mehreren gegangen. Abends waren sie oft in verschiedenen Austauschgruppen. Aber es wurde an den wenigen Beispielen deutlich, dass sie an denselben Orten sehr Unterschiedliches erfahren hatten. Darüber wuchs Staunen und Respekt.

Am ersten Tag hatten sich meist Menschen derselben Sprache gegenseitig begleitet. Dies wechselte dann auffällig und wir sahen mehr und mehr sprachlich gemischte Grüppchen und viele, die in der ihnen fremden Umgebung alleine loszogen. Die gegenseitige Begleitung verhinderte den Exerzitienprozess nicht, sie gab Sicherheit zurückzufinden, wenn man sich verlaufen hatte. Dies kam natürlich einige Male vor, wenn sie sich von ihren Herzen führen ließen.

Nach den Gesprächen in den Gruppen machten die zwei BegleiterInnen meist einen längeren Spaziergang, um weiter dem Gehörten nachzugehen. Aber es gab auch Treffen von uns allen. Drei von uns hatten noch nie Exerzitien begleitet. So kamen Rückfragen und das Staunen über die eigenen Bewegungen im Herzen. Wie ähnlich sind sie in diesem Dienst denen, die begleitet werden. Auch wir mußten das Loslassen neu entdecken. Aber wir durften auch jeweils die anstehenden Impulse zusammen finden. Es war ein freundschaftlicher Austausch, in dem auch unsere Trauer und Freude deutlich wurde.

Der dritte Tag

Beim Morgengebet in der Kirche stand der Text im Mittelpunkt, der von der Frage an die Jünger berichtet: Für wen haltet Ihr mich? (Lk 9,18-20) Es gab einen Gebetsimpuls, wie jede/r den in ihr/ihm liegenden Namen Gottes finden könnte, um mit ihm Gott im Gebet anzusprechen. (Genaueres in: Korrespondenz zur Spiritualität der Exerzitien, Jahresheft 2005, S.19ff) Diese Fundamentbetrachtung konnte von einigen aufgenommen werden. Viele hatten ja noch nie Exerzitien gemacht und waren zum großen Teil unter 20 Jahre, einer sogar erst 15 Jahre alt.

Um 15.30 Uhr fanden wir uns im Saal zum Gottesdienst ein. Wir saßen im Kreis. Wir lasen den Abendmahltext nach dem Evangelisten Johannes (13,11-17). Eine große Aufmerksamkeit war für diese Ergänzung der bekannten Texte vom Brechen des Brotes bei den ersten Evangelisten zu spüren. Es war keine intellektuelle Aufmerksamkeit alleine, denn in der Runde waren schon Anfänge des Osterlachens zu spüren, dieser von innen kommenden Freude. Wir Begleiter waren auch sehr gespannt, ob wir angesichts der asiatischen Kultur die Grenze des Respektes achten könnten, denn wie wenig kannten wir sie. Das wurde uns immer mehr bewußt.

Dann zog ich der ersten Frau die Schuhe aus und wusch ihr die Füße; zwei BegleiterInnen nahmen die beiden anderen Schüsseln, die Seife und Handtücher und folgten meinem Beispiel. Jede/r bekam die Füße gewaschen und wusch sie dann dem Nachbarn. An diese intensive Zeit der Waschungen schlossen sich Fürbittgebete, das Vaterunser und der Friedensgruß an, bei dem wir ohne Schuhe aufeinander zugingen. Als wir wieder im Kreis saßen, kamen zwei Frauen aus Taiwan, die sich in der Stadt verlaufen hatten. Wie können wir sie an dieser Feier noch teilnehmen lassen, dachte ich, als sie nun in der Runde saßen. Da standen eine junge Frau aus Texas und eine aus Taiwan auf, gingen durch den Kreis und wuschen den beiden die Füße – ohne jede Hinführung. Ich staunte und sah wie es gut war.
In den nächsten Stunden äußerten viele, wie dankbar sie mitten in allem Erschrecken waren – über diese Eucharistiefeier, wie sie sagten.

Das Abendessen bereitete die Gruppe aus Taiwan vor. Sie stellten die Tische in vier Gruppen und verteilten sich daran. So konnten sie überall bedienen. Die TaiwanerInnen hatten bisher immer zusammen gesessen, da viele von ihnen nicht gut Englisch sprachen. Jetzt spielte das keine Rolle mehr. Sie – die so auffällig Fremden unter uns und in der Stadt – waren zu Gastgebern geworden. Neben jedem Teller lagen Abziehbilder mit der taiwanesischen Flagge, die ja sehr selten zu sehen ist auf Grund des Konfliktes mit China. Auch andere Kleinigkeiten verschenkten sie. Dieser Wechsel vom Rand in die Mitte hat vieles im Umgang miteinander verändert. Obwohl sie viel Zeit zum Kochen brauchten, war es auch für sie ein voller Exerzitientag, an dem sich viel für jede/n Einzelne/n ereignet hatte, denn jede/r hatte auch Zeit für sich alleine gesucht.

Abends in den Austauschrunden ging der Exerzitienprozess weiter. Einige stießen auf Widerstände, die unüberwindbar schienen, andere fanden überraschend Frieden und bei den BegleiterInnen begann der Schmerz und die Freude über das, an dem sie Anteil nehmen konnten, deutlich zu werden. Auch bei ihnen findet ja ein Prozess der Öffnung statt, mit all den persönlichen Hindernissen, ähnlich derer bei eigenen Exerzitien.

Der vierte Tag

Das Morgengebet fand auf dem Platz vor der Kirche statt. Claudia hatte eine große Spirale auf den Boden gemalt. Es ist das Zeichen, das sie an die Freude der letzten Exerzitien erinnert. Sie zog ihre Schuhe aus und ging langsam in die Spirale hinein, blieb immer wieder stehen und erzählte uns von ihrer Erfahrung, in die Mitte ihrer Person zu gehen, vorsichtig, stockend, verharrend und doch langsam immer mehr um die Mitte kreisend bis sie dort in der Einheit mit sich selbst und dem Leben insgesamt ankam. Es ist eine riesige Befreiung, das geschenkte Leben in dieser Mitte anzunehmen. Sie mußte nicht viel davon sprechen. Ihr ganzer Körper und vor allem ihre Augen sprachen davon. Doch dann kam auch die Zeit, den Weg zurück in den Alltag zu gehen. Auch diesen Prozess konnte sie im Gehen deutlich machen und erklären. Sie wollte ja weiter aus dieser erfahrenen Mitte leben. Mit einem Tanz der Freude auf diesem Platz der Spirale, um die Strahlen in alle Richtungen gemalt waren, endete das Gebet.

Eine von den Begleiterinnen wurde von einer Taiwanerin angesprochen nochmals in die Stadt mitzugehen. Die anderen BegleiterInnen setzten sich wieder zusammen, tauschen ihre Erfahrungen aus und fragten, wie der äußere Ablauf der Exerzitien in der Gruppe weitergehen könnte. Diese Runde war jedes Mal ein großes Geschenk für uns, denn es geschahen ja auch bei uns überraschende Dinge: wir verstanden Hinweise von Ignatius neu, konnten unsere Hilflosigkeit aussprechen und annehmen, Bibeltexte beleuchteten Situationen in unserem Alltag hier. Wir staunten über den fast nicht für möglich gehaltenen Exerzitienprozess in der Gruppe aus drei Kontinenten und die Erfahrungen der Weltkirche, wie eine Teilnehmerin sagte.

Wieder um 15.30 Uhr feierten wir im Saal eine Eucharistie an einem langen Tisch, hörten nochmals die Mosegeschichte (Ex 3) und einen Absatz aus der Emmausgeschichte: Nachdem der Fremde zum Gastgeber geworden war und den beiden Jüngern das Brot gebrochen hatte, war er verschwunden. Auch unsere Situationen auf der Straße sind oft so. Und sie sagten zueinander: „Brannte nicht unser Herz?“ (Lk 24,30-32) Wo brannte unser Herz heute und in den letzten Tagen? Davon wollten wir uns ja wieder am Abend berichten und auch morgen früh in der Großgruppe. Für dieses gegenseitige Erzählen über die Gruppengrenzen hinweg schlugen wir vor, zur Erleichterung ein Symbol mitzubringen.

Die TeilnehmerInnen hatten spontan drei oder vier Menschen zum Gottesdienst und zum Essen eingeladen, denen sie auf der Straße begegnet waren und die für sie wichtig geworden sind. Sie praktizierten die Gastfreundschaft, die sie von ihnen erfahren hatten.

Zum Essen waren die Tische zu einem großen T zusammengestellt. Die TexanerInnen verwöhnten uns mit gebackener Pute und manchem mehr. Die ganz lockere Atmosphäre unterstrich deutlich, dass wir ein Fest feierten. Die uns verbindende innere Freude wurde greifbar.

Beim abendlichen Austausch dankten viele für die vergangenen Tage, selbst für die heftigen Schmerzen unterwegs, und erzählten von der Erfahrung von Frieden und Glück in der Suppenküche, auf dem Friedhof, auf dem Domvorplatz usw. Aber einige Wenige – meist Ältere – spürten auch, dass der Exerzitienprozess erst begonnen hatte und sie wohl noch einige Zeit brauchen würden um zu begreifen, vor welchen Mauern sie in ihrem Leben stehen, die sie behindern und nicht nach vorne sehen lassen. Sie hofften in den nächsten Tagen auf dem versperrten Weg weiter zu kommen.

Der fünfte Tag

Das Morgengebet und der Erfahrungsaustausch zwischen den Exerzitiengruppen fand an einem der als heilig erfahrenen Orte statt: auf dem Friedhof gegenüber der Kirche. Dorthin gingen wir geradezu als Prozession mit einem Liedruf vom aufbrechenden Adler. Als wir im großen Kreis saßen, lasen wir die Emmausgeschichte weiter, wie die Jünger sofort nach Jerusalem zurückgingen, den anderen Jüngern nun zuhörten – vorher konnten die Frauen soviel von der Auferstehung erzählen wie sie wollten, sie ertrugen es nicht – und wie sie dann selbst von ihrer Erfahrung berichteten. Während sie dies taten, war Jesus in ihrer Mitte und wünschte ihnen den Frieden. Im Erzählen war er also wieder da und an dem Frieden zu erkennen, der spürbar wurde. Trotzdem erschraken sie. Kann das wirklich möglich sein, was wir jetzt wieder erleben? (Lk 24,33-40)

Wir luden ein, die Erfahrungen der letzten Tage nun in der Großgruppe zu teilen. Nach einer längeren Stille stellt einer einen Teller in die Mitte und erzählt, wie er von einem obdachlosen Menschen eingeladen wurde mit ihm in die Suppenküche zu gehen und wie er ihn umsorgt hat und er seine Essenmarke einem anderen weitergab, um wirklich dieses Geschenk von seinem Gastgeber anzunehmen. Nicht er hat einem Menschen geholfen, sondern er ist von ihm eingeladen worden. Mit viel Behutsamkeit erzählte er davon, wie er am Tisch des Himmelreiches sitzen durfte, eingeladen von einem obdachlosen Menschen. Er hat ihm den gefüllten Teller gegeben und einen Platz angeboten.

Ein anderer stellte seine Schuhe in die Mitte, die er vor einer Teilnehmerin ausgezogen hatte. Dann wurde von einem Erlebnis auf dem Friedhof erzählt und auf den Ort rundum mit einer Handbewegung hingewiesen – man brauchte kein Symbol. Schnell liefen zwei zurück in die Unterkunft und kamen auch mit Dingen zurück, die sie in die Mitte legten und erklärten.

Wir BegleiterInnen hatten Geschirrtücher besorgt und auf jedes einen Fuß gemalt. Diese Tücher verteilten wir an jede/n mit einem kleinen Kommentar, dass sie im Alltag an die Exerzitien erinnern und zum Erzählen anstoßen mögen, um dabei wieder den Frieden des brennenden Herzens zu spüren. Die Tücher könnten auch eine Erinnerung an die Fußwaschung sein und helfen, sie in irgendeiner Form bei Gelegenheit zu wiederholen. Mit den Tüchern in der Hand tanzten wir nach der Melodie eines Liedes und schwenkten sie. Alles weitere kann sich wohl jetzt jeder selbst ausmalen: Fotos, weiteres Beschriften der Tücher, erzählen, lachen, erzählen.

Drei von den BegleiterInnen mussten sich jetzt verabschieden. Schnell ging es zurück zum Quartier: Einladen des Gepäcks ins Auto, Essen der aufgewärmten Reste und möglichst aller anderen Lebensmittel, Abschied von der Gemeinde, die eine Gruppe für den Weltjugendtag aus Frankreich aufgenommen hatte und mit ihren Gästen feierte und dann schnell auf zum Bahnhof. Claudia war vorausgegangen und hatte eine große Spirale auf den Bahnhofsvorplatz gemalt, bevor sie nach Berlin zurück fuhr. Dieses Abschiedsgeschenk brauchte nicht gedeutet zu werden und viele gingen den Weg in die Spirale und wieder hinaus und fuhren dann um 14 Uhr zur Loreley.

Eine Nachhut von vier Leuten blieb in Fulda zurück, räumte das verlassene Quartier auf und kam dann mit dem Auto nach. Dank ihrer Hilfe konnten wir unbeschwert fahren.

Von dort kann ich nicht berichten. Ich habe gehört, dass es ein frohes Wiedersehen war und alle voll Freude von den eigenen Erfahrungen erst einmal in den Landessprachen erzählten. Von dem Jesuiten aus Taiwan hatten wir vorher schon gehört: „Bei uns breiten sich die Nachrichten in der kleinen katholischen Kirche auf der Insel schnell aus, so dass in einigen Wochen alle von den Exerzitien auf der Straße in Fulda gehört haben und dann will ich solche Exerzitien auch bei uns anbieten.“

Auch ich habe oft von diesen Tagen erzählt und bin gespannt, wie Anstöße aus dieser Zeit weiterwirken.

Das [‚magis]-Gebet

Gott unser Vater,
du bist uns immer nahe:
in der Stille und in der Geschäftigkeit,
in der Einsamkeit und in der Begegnung,
im Vertrauten und im Fremden.
Lass uns immer mehr entdecken:
dass du für uns da bist
und wir dich in allen Dingen suchen und finden können.
Als Zeichen deiner Nähe hast du uns Jesus, deinen Sohn, gesandt.
Lass uns ihn immer tiefer erkennen:
damit wir die Welt sehen, wie er sie sieht,
urteilen, wie er urteilt, handeln, wie er handelt.
Erfülle uns mit deinem Heiligen Geist,
dass wir Jesus immer mehr lieben
und ihm immer mehr nachfolgen.
Amen.

Vincent Lascève, Frankreich
Ein Teller im Kreis

Ich möchte gern ein Zeugnis geben von dem was mit mir im [magis‘]-Experiment passierte. Am ersten Tag dachte ich, ich wäre gerufen, in der Stadt die Orte aufzusuchen, wo Prostituierte auf Kundschaft warten. Doch am Ende des ersten Tagen, nachdem ich Gott an diesen Orten gesucht hatte und keinen Frieden gefunden hatte, traf ich einen alten Bettler am Eingang der Kathedrale, dem ich eine Banane gab. Wir unterhielten uns ein wenig miteinander. Am Abend nahm ich wahr, dass mein Tag sehr kompliziert verlaufen war und dass ich schließlich in der Einfachheit dieses alten Bettlers das gefunden hatte was ich gesucht hatte.

Das ist der Grund warum ich am zweiten Tag beschloss in die Stadt zu gehen, zu Orten wo ich Bettler finden und mit ihnen sprechen konnte. Ein junger Mexikaner von [magis‘] begleitete mich. Wir gingen zum Bahnhof, doch da fanden wir keine, nur zwei Jugendliche, die wahrscheinlich Drogen verkauften. Dann liefen wir in der Stadt herum, suchten nach Bettlern und fanden keine. Der erste Bettler, den wir trafen, wollte nicht mit uns reden. Wir boten ihm Obst an, doch er lehnte ab. Er akzeptierte, dass wir auf der benachbarten Bank Platz nahmen und Mittag aßen. Doch nach einigen Minuten fühlten wir uns sehr unbehaglich dabei vor seinen Augen zu essen, ohne dass er daran teilnahm. So gingen wir zu einer anderen Bank, um Mittag zu essen und unterhielten uns über diese Erfahrungen und über unser Leben.

Ich hatte den Eindruck dass dieses Teilen mehr war als das Teilen von Brot. Nach diesem wunderschönen Aufenthalt im Park gingen wir zur Kathedrale zurück, um mit dem alten Bettler zu sprechen. Er war freundlich wie gestern. Er wünschte nicht, dass mein amerikanischer Freund ihm neue Schuhe bezahlte. Nach einiger Zeit wussten wir nicht mehr, was wir sagen sollten und beschlossen, ein wenig auf der Wiese neben der Kathedrale zu rasten, zusammen mit unseren französischen Freunden von [magis‘] und ihren neuen Bettler-Freunden. Die meisten ihrer Bettler-Freude waren sehr lebhaft und ich war enttäuscht, dass wir mit ihnen keine Beziehung aufnehmen konnten. Doch überraschender Weise setzte sich einer von ihnen vor mir nieder, schaute mir in die Augen und sagte: „Du scheinst einer zu sein, der viel erlebt hat.“ Ich antwortete: „Was meinst du?“ Er: „Ich meine, du hast viele Erfahrungen gemacht in deinem Leben. Das ist zu sehen.“

Ich staunte über dieses Kompliment und verbracjhte den Rest des Nachmittags damit, darüber nachzudenken. Am Abend feierten wir Gottesdienst und wuschen dabei einander die Füße. Dabei wurde mir klar, dass es mir leichter fällt, anderen zu dienen, als von anderen bedient zu werden. Darüber nachdenkend und in der kleinen Austauschgruppe am Abend sprechend, wurde mir die Bedeutung dieses Tages geschenkt. Während dieses Tages hatte ich viel weniger gegeben als empfangen. Ich wollte den Bettlern Sachen oder Worte geben und sie hatten mir Worte der Liebe geschenkt.

Am dritten Tag wollte ich diese Erfahrung mit den Bettlern vertiefen und zur Suppenküche gehen. Doch hatte ich dazu eine Menge Zweifel und war mir nicht sicher, dass es der Platz war, zu dem ich gehen sollte. Bevor die Suppenküche öffnete ging ich allein durch die Stadt und betrat eine sehr alte Kirche nahe bei der Kathedrale. Hier begann ich zu beten und war schließlich entschlossen, die Furcht zu überwinden, die mich vom Besuch der Suppenküche abhielt. Ich verließ die Kirche und hatte den lebhaften Eindruck, dass mein Beten auf der Straße weiterging – wie in der Kirche. Das heißt: das wirkliche Leben war Gebet. Ich ging direkt zum Portal der Kathedrale, um ein wenig mit dem alten Bettler zu sprechen. Ein anderer Bettler, Alexander sein Name, tauchte plötzlich auf und schlug dem alten Bettler vor, für ihn Brot zu kaufen. Wir begannen, uns zu unterhalten und überraschenderweise lud er mich ein, mit ihm zur Suppenküche zu kommen. Wir gingen zusammen hin und fanden zwei andere Bettler, die Riesling tranken bevor die Küche öffnete. Sie waren von Osteuropa und Russland. Ein anderer Mann von einem anderen Tisch gab mir ein Ticket für das ich Mittagessen bekomme, ohne zahlen zu müssen. Ich versuchte abzulehnen, konnte es aber nicht.

Als die Küche öffnete ging ich zur Theke, um Essen für mich und Alexander zu bekommen. Ich sagte ihm, jemand hätte mir ein Ticket gegeben, doch er antwortete: „Ich habe bereits für dich bezahlt.“ Ich begann zu essen, innerlich ergriffen, denn ich merkte, dass dieser Augenblick ein Gebet war. Ich hatte das Gefühl, adoptiert zu sein von diesen Männern. Zwei weitere Details sprachen mich sehr tief an. Erstens: Sie hatten mir keinerlei Wasser zu trinken gegeben beim Essen, and sie tranken Wein direkt aus der Flasche, was ich nicht mochte! Als ich darüber nachdachte merkte Alexander es und gabe mir einen Becher Tee mit Zucker! Dann hatte ich kein Brot zu essen zu meinem Fisch. Der Mann vor mir, Dimitri genannt, hatte zwei Scheiben neben seinem Teller. Er erriet, dass ich Brot vermisste und gab mir eine von seinen Scheiben. Für mich bekam es das Symbol für das was mir geschah: Ich erkannte ihn als er das Brot teilte (vgl. die Emmausjünger, Lk 24). Bestätigung für das war das Evangelium das für die abendliche Eucharistiefeier ausgewählt worden war: die Emmausjünger. Ich machte die Erfahrung vom Herrn getröstet zu werden wie die beiden Pilger auf ihrem Weg nach Emmaus.

Jeder dieser drei Tage war ein Weg, meine Furcht zu überwinden und in eine Beziehung mit den Bettlern zu treten. Es endete mit einem großen Augenblick der Freundschaft mit ihnen. Deshalb brachte ich am letzten Tag, als wir auf dem Friedhof beim Gebet Zeugnis gaben, einen Teller in den Kreis, um so diese Momente der Kommunion mit Jesus Christus zu symbolisieren, den ich in den Bettler gefunden hatte.

http://www.con-spiration.de/index.html