Projekt: Straßenexerzitien

Claudia Dawidowski (2007)

Bericht vom [‚magis] -Wochenende 6./7./8. Juli 2007

1. wie es begann

Unruhe – Enttäuschung – Wunsch nach Veränderung, nach neuem Sehen …

Da war das Gefühl, dass eine (schon mal sehr aktive, engagierte) Gemeinde immer mehr verflacht, zum Verein wird ohne dem „Vereinsgrund“ viel Bedeutung einzuräumen …

Aktion ohne tieferen Sinn – nur Unterhaltung und Spaß – gute Ansätze zwar (Kleiderkammer, sozialer Punkt), die aber immer mehr der Profilierung und Selbstbeweihräucherung Einzelner dienen als der wahren Hinwendung zu Bedürfnissen der Menschen –

und eine KJG, die zur Vorbereitung eines Jugendgottesdienstes bis auf ein Männlein komplett abwesend zeichnet, zum Saufen aber stets vollständig zur Stelle ist …

Frustration und Kampf gegen den „einfachen“ Weg der Resignation – Fragen – Gespräche – Suche – und schließlich [‚magis] …

Wir (2 Frauen aus der SeMaS = Seelsorgeeinheit Mannheim Süd) besuchten Ende Oktober einen Workshop zu [‚magis] in Speyer und wurden „infiziert“ – geradezu überwältigt von den Gedanken und Möglichkeit, die auf einmal so greifbar waren in ihrer Einfachheit – und was eigentlich Theorie bleiben sollte, wurde auf Drängen der Teilnehmer des Workshops sehr real: wir gingen auf die Straße – nur eine Stunde, doch ich wusste: das ist der Weg, der „Ort“, an dem geschieht …

2. vergebliche Versuche

Zurück in der SeMaS sprudelten wir über vor Begeisterung und Tatendrang, doch es war nur unsere Begeisterung…

Hinhören, schon auch mit Interesse – Skepsis – „Todesurteile“: wir haben doch schon so viel / da kommt eh keiner – weitermachen – immer wieder Gespräche und Vorstellen der Idee – Resonanz??? – Penetranz unsererseits – und doch auch schon fast Mutlosigkeit – der Funke sprang nicht über …

3. wir machen’s!

Hinein ins Fragen, ob das alles Sinn macht, stand dann plötzlich ganz klar die Entscheidung (wie vom Himmel gefallen!): wir machen’s einfach, egal ob jemand mittut – reden nutzt nichts, tun müssen wir’s! Diese Entscheidung fiel innerhalb von Minuten während eines Telefongesprächs!

Erste Planung – Anfrage an den hauptamtlichen Ansprechpartner für GBL-Gruppen (Hauskreise), ob wir die Räume bekommen – Information der Gruppenleiter und der Firmkatecheten – und zum großen Erstaunen doch noch Interesse („ich hab Zeit, könnt ihr mich brauchen?) …

Ein Punkt war gesetzt und das geplante Wochenende begann ein „Eigenleben“. Als ich Peter Hundertmark bat, über unsere erste, noch vage Planung zu schauen, kam große Bereitschaft, uns zu unterstützen, zu beraten, einen ganzen Tag lang zu uns zu kommen und mitzudenken.

Das Projekt wurde in den Kirchenzeitungen (sowohl SeMaS, als auch für ganz Mannheim) vorgestellt und ich informierte den Pfarrer der KHG Mannheim, mit dem ich vorher schon einige Gespräche geführt hatte – und er „fing Feuer“ beim Wort „Straßenexerzitien“ – wieder einer „im Boot“, der seine Dienste anbot und für’s Ganze sehr wichtig wurde …

Ein sehr viel Mut machendes Gespräch mit P.Alex Lefrank und viele Menschen, die mit uns beteten, waren ein guter Boden, auf dem das ganze wuchs …

4. denken und planen

Wir wollten einladen zu einem Wochenende von Freitag Abend bis Sonntag Mittag.

Freitag würden wir das Projekt vorstellen, anleiten und uns einstimmen mit dem Grundgedanken an Gottes Allgegenwart.

Der Samstag sollte der Projekttag auf der Straße werden – gemeinsamer Tageseinstieg mit dem Fokus der Aufmerksamkeit – Möglichkeiten zu Begleitgesprächen – einem Ort der Stille und Anbetung – Eucharistiefeier – Ausrauschrunde – gemeinsames kochen und essen.

Sonntag würden wir gemeinsam einen Gemeindegottesdienst besuchen und uns dort versuchen, mit den gemachten Erfahrungen einzubringen, also mit der Gemeinde zu teilen.

Die Planung erforderte Einsatz, aber viele Dinge klärten sich fast „von alleine“ – Menschen machten Angebote, übernahmen Dienste und Arbeiten (so band eine Druckerei unsere Hefte mit Texten und Liedern kostenlos) – in allem konnten wir das Wirken Gottes spüren und in uns wuchs tiefes Vertrauen in Sein Mitgehen, so dass zu keiner Zeit Stress und Druck aufkam (das kannten wir von anderen Veranstaltungen, bei denen wir die Verantwortung hatten) – und in der Tat war es anders als sonst, denn „Verantwortung“ im eigentlichen Sinne hatten wir ja nicht – wir stellten den Rahmen zur Verfügung, gewährleisteten das äußere Gerüst und wollten versuchen die Teilnehmer einzustimmen mit dem Glauben, der tief in uns Wahrheit ist: Gottes Gegenwart überall und in allem und jedem – Seinem Namen trauen, IHM dieses „ICH-bin-da“ glauben und zutrauen. Was werden würde, lag in der Möglichkeit eines jeden Teilnehmenden, aufmerksam zu werden für das Da-Sein des Herrn und sich öffnen zu können, damit ER würde wirken können in der Begegnung mit dem Leben.

5. das Projekt

Es war ein kleiner Kreis von 11 Leuten, die sich auf das Experiment einließen – verschiedene Altersgruppen – ganz unterschiedliche Lebenssituationen – neugierig und bereit, aber auch skeptisch, eine Frau sogar aggressiv gegenüber dem magis/MEHR, obwohl wir uns mühten, gerade dieses Wort gut anzuleiten …

Und bei all den unterschiedlichen Situationen, Wünschen und Erwartungen war bereits der Beginn am Freitag eine sehr wohltuende, bereichernde Erfahrung – eine junge Teilnehmerin (Pastoralassistentin) ging dieser Abend mit seinem Inhalt so „unter die Haut“, dass sie allein deswegen am Samstag ein sehr langes Gespräch mit mir suchte …

Samstag:

Frühstück – Morgenlob – Dornbuschgeschichte – Tagesfokus: ist der Ort, auf dem ich gerade stehe, Heiliger Boden …

Und alle zogen aus, diesen „Ort“ zu finden: Heiliger Boden mitten in der Stadt – im Alltäglichen der Umtriebigkeit – im Unerwarteten zwischen der Hetze – am Rande gesellschaftlicher Normen – dort, wo’s alle meine Sinne bindet, wo ich reagiere, selbst ohne es zu wollen – dort wo ich eigentlich nicht gerne hinschaue, schon gar nicht bleibe ..

Heiliger Boden – weil ich dort stehe? – weil Gott dort ist? – weil der andere dort und so lebt? Und wir trafen auf Hektik und Ruhe – auf Obdachlose, die Freude ausstrahlten, weil wir ihnen Zeitungen abkauften und uns mehr gaben, als das Papier – auf Bettler, Trauernde, Verlorene – Brennpunkte des Lebens – und uns gingen die Augen auf und ER bekam Raum, neues Sehen wach zu rufen: Blick auf IHN im Blicken auf Lebenswahrheiten der Menschen und auch Sein Blick auf der Lebenswahrheit jedes Einzelnen …

11 Teilnehmer – 11 ganz und gar unterschiedliche Erfahrungen!

Wichtig war das Gesprächsangebot, das stark genutzt wurde. Wichtig war das Bewusstsein, nicht allein zu stehen – etwas gemeinsam zu tun, auch wenn jeder allein unterwegs war.

Und all das mündete ein in eine ungeahnt tiefe Eucharistiefeier – in eine Begegnungsfeier mit IHM – und in den späteren Austausch, der staunen machte, so vielfältig blätterte sich das Leben auf – es war Lachen und Weinen – alles hatte Raum – und selbst vor Lachen kamen uns die Tränen bei aller Ernsthaftigkeit …

In mir wuchs Dankbarkeit und Demut angesichts dieser Fülle von Leben und eine tiefe Freude stellte sich ein – Freude in mir darüber, dass ich Menschen auf ihrem ganz eigenen Weg mit ihrem Erfahrungsschatz begleiten durfte …

Sonntag:

Der Zelebrant des Gemeindegottesdienstes überließ uns das weite Feld der Predigt und wir versuchten, Brücken schlagend, Evangelium (Lk 10, 1-9) (Aussendung ohne alles – ohne Plan und Erwartungen – „ich sende euch mitten unter die Wölfe“ – wer ist Schaf und wer Wolf?) und Grundgedanken unseres Übungstages (Dornbusch – Schuhe ausziehen = Vorurteile ablegen – Gottesname) zu verbinden und mit einem Erfahrungsbericht eines Teilnehmers (er stand bei einem Bettler und entschied sich, sich nachmittags selbst auf die Straße zu setzen) zu verdeutlichen, worum es uns mit diesem Wochenende ging. Die Reaktionen der Menschen war vielfältig, positiv und wir hatten das Gefühl, ihnen „Denkstoff“ mit ins Leben gegeben zu haben …

In der folgenden Woche kam es für mich noch zu zahlreichen Gesprächen mit Teilnehmern, die mir erst die Tragweite dessen, was geschehen war, deutlich machten ..

6. Ausblick

Die KHG im Mannheim will zum 1. Advent ein Wochenende mit Straßenexerzitien anbieten, an das sich dann in der Folgewoche Exerzitien im Alltag anschließen werden. Ich bin gespannt auf dieses neue Vorhaben und bin bereit, wieder mitzuarbeiten in der Hoffnung, dass wir mit diesem ersten Versuch Interesse geweckt haben und sich so auch andere Menschen ansprechen lassen, dem Leben und darin Gott zu begegnen.