Gypsy Wedding

Sven Schlebes (2009)

Es sind gerade die ursprünglichen Dinge, die mich herausfordern: grundlos mit Freunden zusammen zu sitzen, Musik zu hören, ein Gespräch mit meinen Eltern zu führen. Ihre Einfachheit überfordert mich. Besonders schwer fällt es mir, mit Gott ins Gespräch zu kommen. Zum Glück gibt es für modernen Menschen wie mich Exerzitien, die einem das Naheliegende wieder beibringen. So wie die Asphaltexerzitien in Kreuzberg. Einen Tag lang bin ich ohne Mobiltelefon auf die Strasse gegangen, auf der Suche nach meinem Vater und mit nichts weiter als einem kirchlich vorgegebenen Gesprächvorschlag: dem „Vater unser.“ Es war ein einfacher aber entschiedener Tag meines Lebens.

Kennen Sie Momente, in denen Sie nicht mehr weiter wissen und um eine klare Ansage bitten? Vor ein paar Wochen war es bei mir soweit. Nichts griff mehr. Da kam die Einladung, einen Tag lang absichtsfrei durch Berlin zu laufen, gerade zur rechten Zeit. Asphaltexerzitien heißt dieses Angebot eines Jesuitenparters aus Kreuzberg, und seine Schlichtheit machte mich zunächst stutzig: Es kostet nichts, es gibt keine Regeln, keinen Trainer – nur das Angebot, seine Suche nach Gott unter seiner Obhut zu beginnen und zu beenden. Zusammen mit anderen Suchenden.

Und so stand ich dann an einem Freitag Morgen im U-Bahn-Tunnel der U6 am Kottbusser Tor, Christian, unser Jesuitenparter, laß die Geschichte von Moses und dem brennenden Dornbusch und drückte uns dann eine List mit fünfzig Orten in die Hand.

„Sucht euch einen Ort aus, zu dem ihr hinwandert“, schloss er seine Erzählung, „und beginnt eure Suche mit einem Namen für den Herrn. An welcher Tür würdet ihr klingeln, um bei ihm einzukehren?“

Mein Gott – was für eine Frage. Meinen Mitsuchern schien diese Frage nichts anhaben zu können. Zielstrebig wählte jeder von ihnen einen anderen Weg aus dem dunklen Tunnel. Da stand ich, und war noch überforderter als zuvor. Früher, da gab`s immer einen, der weiter wusste. Das war mein Vater. Doch der war weit weg. Blieb nur noch der andere, der biblische, der sich vor Moses im Dornbusch versteckte und angeblich mit Feuerszungen sprach. In einer Sprache, die mir noch keiner beibringen konnte. Und so begann ich meine Reise raus aus dem Tunnel mit den Worten, die ich einst im Kindergottesdienst auswendig gelernt hatte:

Vater unser im Himmel

Oben am Kottbusser Tor hatte bereits das Leben der nicht exerzierenden Menschen begonnen. Es nieselte leicht und der Himmel war nicht zu sehen – nur eine graue Wolkenschicht. Als Ziel meiner Tageswanderung hatte ich das Kriegerdenkmal im Treptower Park ausgesucht. Der lag um die Ecke und besucht hatte ich ihn noch nie. Meinem Gott einen Namen zu geben, wie Christian uns geraten hatte: Das klang einfach und traf doch den Kern meiner Suche. Alle Menschen, die ich in Kirchen, Meditationsräumen, auf Wiesen, in Tempeln, Synagogen und Moscheen getroffen hatte, schienen damit nie ein Problem gehabt zu haben. Sie besangen ihren Gott in wunderschönen Lieder: Und je mehr ich darüber nachdachte, fühlte ich, wie sie alle tief in mir um ihre Gewissheit beneidete und den daraus erwachsenden Reichtum. Sie konnten die Quelle benennen. Ich nicht. Ich kannte nur den Zweifel und erahnte mit einem Mal die Ursache für meine innere Leere, meine geistig-seelische Armut. Würde ich ihn finden, den verheißungsvollen Namen, ich hütete ihn wie einen Schatz.

Und so verstand ich die zweite Zeile des Gebets:

Geheiligt werden dein Name

Mein Weg führte mich entlang des Landwehrkanals – der Regen wurde immer stärker. Von irgendwoher kam Musik. Blasmusik. Eine Geige mischte sich dazu. Und dann ein Hupkonzert. An der Brücke nach Treptow lag das Standesamt von Kreuzberg. „Trau dich“ lautete die neue Kampagne des Bezirks – und vor dem Plakat tanzten mitten im Regen eine Handvoll bunt gekleideter Menschen um ein Brautpaar. Zigeuner. Selbst für Kreuzberger ein denkwürdiges Bild. Schnell war die Straße verstopft von haltenden Autos mit staunenden Berlinern. Ein Blitzlichtgewitter. Die Gesellschaft verteilte an alle Staunenden Sekt. Ich lehnte ab und wandet mich wieder meinem Ziel zu: dem sowjetischen Kriegerdenkmal. Eine demonstrative Abrechnung mit dem Schrecken des dritten Reiches – und eine Verheißung einer neues Zeit – des sowjetischen Reiches:

Dein Reich komme

Durch alte Industrieanlagen führte der Weg zum Park, ein Loch im Parkzaun gewährte mir dann Eingang zum eigentlich geschlossenen Areal. Gleich zu Beginn des betonierten Areals eine weinende Mutter, in Sichtweite hüteten zwei weinende Rotarmisten den Eingang zu den Massengräbern. Am Ende des Betonfeldes stand auf einem Hügel erhöht der siegreiche Soldat. Sein Schwert trotzig in die Luft erhoben. Ein Reich war besiegt – die Zeit des nächsten zog herauf. Und war mit meinem Besuch doch schon wieder Geschichte. Was ist geblieben? Ein Denkmal für die Toten, die für den Traum von weltumspannenden Reichen gestorben waren. Ob die Menschen damals wussten, dass das nicht das Reich des Vaters war? Es war ihr Reich, ihr Wille. Und ich wollte hierhin – an diesen Ort.

Ob wohl es Freitag Mittag war, 12 Uhr, mitten in Berlin, war alles still. Ich selbst hatte das Ziel gewählt, wollte meinen Vater suchen, haben meine Vorväter gefunden. Und ein Mahnmal des siegreichen Todes. Offensichtlich ein falscher Weg. Ein Weg in Grau. Ebenso wie der Himmel an diesem Tag.

wie im Himmel so auch auf Erden

Ich nahm denselben Rückweg – durch das Loch im Zaun, die Industrieanlagen, bis zur Brücke. Das Standsamt lag wieder menschenleer. Da es immer noch regnete, besuchte ich das nächstbeste Kaffee an der Ecke – und befand mich augenblicklich umringt von tanzenden Menschen. Die Hochzeitsgesellschaft hatte einfach nur die Straßenseite gewechselt, um das Hochzeitsmal einzunehmen. Einer der Musiker weiß mir einen Stuhl zu und schob mir eine Suppenschüssel zu. „Was für ein schöner Tag, oder?“

Unser tägliches Brot gib uns heute

Hier an diesem Tisch in der Ecke einer Kreuzberger Kneipe, fielen sie mir wieder ein, die vielen Momente, die so wunderbar absurd waren wie dieser. Sie hatten mich nicht berühmt gemacht, mir nicht viel Geld eingebracht, keine guten Noten geschenkt. Es waren kleine Momente. Voller Freude. Weil sie aberwitzig waren. Und nicht in meine Welt passten. Aber ich hatte sie verdrängt. Vergessen. Und auch die Menschen, mit denen ich sie verbringen durfte.

Und vergib uns unsere Schuld

Weil sie nicht in mein Leben passten. Passen durften. Weil sie anderen Angst gemacht haben – meinen Eltern, Lehrern, Freunden.

Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern

Und natürlich auch mir selbst. Ich hatte Angst gehabt, weil diese Momente kamen und gingen, wie sie wollten. Inszenieren liessen sie sich nicht. Nachdem ich die Suppe zu mir genommen hatte, verließ ich die Hochzeitsgesellschaft und macht mich auf den Weg zurück in die Wohnung des Jesuitenpaters. Dort warteten schon die Anderen. Jeder hatte eine andere Geschichte zu erzählen. Aber niemand hatte ihn gefunden – seinen Gott.

Außer mir. Ich wusste jetzt, wie ich Gott finde.

Und führe uns nicht in Versuchung

Als ich an der Reihe war, plätscherte es nur so aus mir heraus. Der falsche Weg, der richtige Weg. Der Tod, der Regen die Hochzeit. Das Leben. Triumph. Meiner.

Sondern erlöse uns von dem Bösen

Als ich aufgehört hatte zu erzählen, blickten die anderen mich noch trauriger an als gestern Abend. „Deine Geschichte ist eine sehr schöne Geschichte,“ beendete Christian das Schweigen der Runde.

„Aber warum glaubst du, dass du Gott gefunden hast? Und nicht Gott dich?“

Wieder Schweigen. Und dann ein Lachen. Sie lachten. Und ich mit ihnen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit

Amen

veröffentlicht in Theo – Katholisches Magazin 2/2009