Aufmerksam werden

Weglassen: Geldbeutel, Handy, iPod, .... (Foto: Martin Strattner CC-BY-ND 2.0)

In den letzten zehn Jahren wurde bei Kirchen­ und Katholikentagen eine Aufmerk­samkeitsübung angeboten. Jeweils etwa 50 Menschen gingen zwei oder drei Stunden auf die Straßen der Stadt. Als Hilfestel­lung bekamen sie zwei Sätze aus dem Lukasevangelium (10,3+4) mit auf den Weg. In diesem Bibeltext bereitet Jesus 72 Jünger und Jüngerinnen darauf vor, in die Städte und Ortschaften zu gehen, in die er noch kommen will. Anschließend erzählten die Teilnehmenden in kleinen Gruppen von ihren überraschenden Erfahrungen. Ähn­lich nahm Jesus sich die Zeit, den Jüngern zuzuhören. Bei uns hörten jeweils einige Begleiterinnen und Begleiter mit Erfah­rungen aus Straßenexerzitien zu. Jetzt möchte ich Sie an dieser Stelle einladen, sich auf solch eine Zeit der Aufmerksam­keit einzulassen.

In der biblischen Vorlage weist Jesus zu­erst auf die Situation hin, die die Jünger vorfinden werden. Ähnliches gilt auch für uns. Die Jünger gingen aus dem geschütz­ten Kreis hinaus in ein oft feindlich ge­sinntes Umfeld. Im eigenen Kreis hatten sie sich unter dem Schutz von Jesus, der wohl jeden zu Wort kommen ließ, eine Stellung erarbeitet. Doch das wird sich auf der Reise ändern: „Ihr überschreitet eine Grenze. Legt deshalb alle Besserwis­serei ab. Hört aufmerksam zu. Nun geht! Ich sende euch wie Lämmer mitten unter Wölfe“, lauten die Worte Jesu.

Dann gibt Jesus noch vier Anweisungen:

1. Lasst das Futter für die Wölfe weg. „Nehmt keinen Geldbeutel mit.“ Ohne Geld seht ihr eure Geschwister besser, die auch ohne Geld auf der Stra­ße sind, und könnt ihre Bedürfnisse besser spüren: Durst, Hunger, den Zu­ gang zu einer Toilette, Regenkleidung. Dann seid ihr keine Kunden mehr, de­ren Bedürfnisse auf Zuruf befriedigt werden. Auch andere Abhängigkeiten, die uns zur Beute von Wölfen werden lassen, können wir wenigstens für einige Zeit weglegen: die Uhr, Handy, Online­präsenz …

2. Kauft kein Überlebenspaket ein. „Lasst auch den Rucksack weg.“ Die Jünger dürfen jede Absicherung vermeiden, außer der, sich ganz auf die Frohe Bot­schaft Jesu zu verlassen.

3. Geht in die Haltung der Achtung vor euren Gastgebern. „Zieht eure Schu­he sofort aus“, nicht erst beim Betre­ten der Häuser, sondern schon hier. Vertagt eure Geste der Achtung nicht! Legt die Schuhe der Distanz weg: Die Schuhe mit hohen Hacken, durch die wir auf andere hinabsehen können; die Turnschuhe, mit denen wir oft bei Konflikten schnell weglaufen; die Schuhe mit Stahlkappen, mit denen wir zutreten können …. Jeder von uns trägt andere „Schuhe“, die eine Distanz zum Boden und zur Wirklichkeit vor Ort herstellen.

4. „Und grüßt nicht unterwegs.“ Wie können wir diese Anweisung verstehen? Als ich in einer überschaubaren Runde den Text aus dem Lukasevangelium vorlas, sprang eine ältere Ordensfrau auf und schrie gerade­ zu: „Ich will doch nicht unhöflich sein!“ Doch auch diesen Ratschlag müssen wir in unseren Alltag übersetzen. Ich schlage vor: Lasst euch von einengenden Regeln nicht aufhalten und grüßt vielleicht mal diejenigen, die ihr sonst nicht grüßt. Mit manchen Höflichkeitsregeln können wir den Ruf Gottes in den Hintergrund drü­cken. Er wird in vielen Alltagskonventio­nen beiseitegeschoben.

Soweit einige Erläuterungen zu dem Bibel­text. Nun lade ich die Sie ein, sich auf eine Zeit der Aufmerksamkeit mit diesen Anweisungen Jesu einzulassen. Was sehen wir alles – auch in gewohnter Umgebung – neu, wenn wir einige vertraute Dinge weglegen? An­schließend hilft ein Gespräch mit Freundin­nen und Freunden, um die Erfahrungen zu sichten. Manchmal weitet das Lesen der Er­fahrungsberichte auf dieser Webseite unseren Blick, oder im Buch: „Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen – Persönliche Begegnungen in Stra­ßenexerzitien“ (Neukirchener Verlage 2016).

Zieh deine Schuhe an einem Ort aus, der dir unangenehm ist

Strasse_Tokyo_2011 (Foto K. Happe)

Christian Herwartz (2011)

Vielleicht fragst du dich: Die Schuhe ausziehen – warum denn das? Und was hat das mit meinem Glauben zu tun? Gewöhnlich zieht man ja seine Schuhe aus, wenn man nach Hause kommt oder ins Bett gehen will. Und macht sich meist keine weiteren Gedanken darüber. Aber ich kann dem „Vorgang“ des Schuheausziehens auch mal ein wenig mehr Beachtung schenken und sie als ein Bild mit einer tieferen Bedeutung betrachten.

Bei den Jesuiten, zu denen ich gehöre, gibt es eine Gruppe von Ordensleuten, die regelmäßig Kurse anbietet, in denen es ums „Schuheausziehen“ geht. Das heißt, im Kern geht es darum, seine Umwelt intensiver und bewusster wahrzunehmen. Die Schuhe sind ein Symbol. Sie stehen für meine eigenen Vorurteile, Ängste, Zweifel und falschen Wahrnehmungen. Wenn ich sie „ausziehe“, dann bekomme ich Bodenkontakt mit der Realität – und kann das, was um mich herum geschieht, plötzlich aus einem ganz neuen Blickwinkel betrachten. Um das in der Praxis – im Rahmen eines Kurses auszuprobieren – wohnen die Teilnehmer in einer Notunterkunft für Obdachlose mitten in Berlin-Kreuzberg, die im Sommer leersteht. Tagsüber laufen sie durch die Stadt und bleiben an Orten stehen, wo sie innerlich bewegt werden. Dort ziehen sie dann – zumindest gedanklich – ihre Schuhe aus und üben sich darin, die Welt um sich herum aufmerksamer wahrzunehmen.

Ein junger Mann ging beispielsweise auf einen Platz, an dem sich regelmäßig Ausländer trafen, die eine Arbeit suchten. Unfallversicherung und Steuern sollten nicht gezahlt werden; alles musste im Verborgenen geschehen. An diesen zwielichtigen Ort wagte sich der Mann also und zog sich schon am Rand des Platzes seine Schuhe aus. Dann gesellte er sich unbehelligt zu der Gruppe der Arbeit(er)suchenden. Er wollte das, was um ihn herum passierte, aus einem neuen Blickwinkel sehen – die unverblümte Wirklichkeit – und die Welt nicht durch die Brille seiner Vorurteile betrachten. Er wollte die Menschen aus der Perspektive Jesu sehen lernen, nach einem Ort suchen, wo ihm der Auferstandene begegnen konnte – mitten im Großstadttrubel. Voll Freude kehrte er abends nach Hause zurück. Er hatte an diesem Tag fünf Mal staunend seine Schuhe und vor allem seine Vorurteile ausgezogen.

Eine Frau stoppte beim Gang durch die Stadt an einen Drogenumschlagplatz in der Nähe einer U-Bahnstation. Sie mied diesen Ort sonst, besonders wegen des Lärmes, der dort herrschte. An einem „Tag der Besinnung“ jedoch ging sie ganz bewusst zu diesem Junkie-Treffpunkt und nahm die Menschen, die ihr so fremd waren, in den Blick. Sie zog die „Schuhe ihres Herzens“ – ihren Hochmut, ihre Verurteilungen aus. Staunend blieb sie in Sichtweite zu der Gruppe stehen. Als sie beobachtete, wie diese Leute miteinander umgingen, tat ihr das in der Seele weh. Aber sie sah auch ganz zärtliche Szenen: wie Menschen achtsam mit denen umgingen, die in ihrem Rausch die Orientierung verloren hatten. Fast unbemerkt hatte sie ihre Schuhe ausgezogen. Sie hatte mit den Füßen „sehen“ und „fühlen“ gelernt.

Die Schuhe ausziehen – das ist also ein Bild für die Bereitschaft, aufmerksam und mit Respekt die Menschen seiner Umgebung wahrzunehmen.

Auch in der Bibel ist an einer Stelle vom Schuheausziehen die Rede. „Zieh die Schuhe aus!“, sagte Gott zu Mose, als dieser sich mitten in der Wüste neugierig einem brennenden Dornbusch näherte, dessen Zweige nicht verbrannten (siehe 2. Mose 3,5). Mose sollte seine Schuhe ausziehen, weil er auf heiligem Boden stand. Und dann sah er etwas, was er gerade eben noch nicht wahrgenommen hatte: Mitten in den Dornen des Lebens erkannte er die Liebe Gottes, die den Menschen erwärmt, aber ihn nicht verbrennt. Mose wurde bewusst: Sein Volk litt große Not und wartete intuitiv auf seine Befreiung. Und Gott wollte ihn – als 80-Jährigen – dafür in seinen Dienst nehmen.

Gehst du auch manchmal bestimmten Leuten aus dem Weg? Ich will dich ermutigen: Nähere dich ihnen einmal und sei gespannt darauf, was du entdecken wirst … Wage es, die hochhackigen Schuhe, in denen man so leicht auf andere herabsehen kann, auszuziehen. Oder die Turnschuhe, mit denen man so schnell die Flucht vor einer bestimmten Situation ergreifen kann. Oder die bunten Schuhe der Eitelkeit. Natürlich kann keiner das Ergebnis voraussehen. Doch wenn wir uns mit Gott an der Seite auf dieses Abenteuer einlassen – und zu den Menschen gehen, die unbeachtet oder sogar an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, dann bekommt das Leben eine neue Kraft.

Weitere Anregungen dafür, mitten in der Stadt auf andere aufmerksam zu werden und bewusst wahrzunehmen, was um uns herum geschieht, findest du unter www.strassenexerzitien.de und in dem kleinen Buch „Auf nackten Sohlen – Exerzitien auf der Straße„, das im Echterverlag erschienen ist.

Aus: Verena Keil / Nicole Schol. Pimp your Faith. 77 Ideen, die deinen Glauben nach vorn bringen. Taschenbuch, 240 Seiten Gerth Medien http://www.gerth.de/index.php?id=201&sku=816592