Das Klosterfenster, das offen blieb

Claus Recktenwald sj schickt zum interreligiösen Gedenkgang (07.06.) für Pater Frans van der Lugt in An-Nahar und für den Frieden in Syrien den aus dem Arabischen übersetzten Nachruf.
Dankbar für dieses Zeugnis eines Möches, der auf die Straße dem Frieden entgegen ging.

In einer der feuchten Sommernächte war ich mit Frans in den Wäldern von Salnafa unterwegs. Nach einem anstrengenden Marsch unterhielten wir uns lange und er vertraute mir diese Geschichte an, während wir an einer Pinie lehnten und uns der Schweiß über die Schläfen rann. 
Als Frans bei den Jesuiten eintrat, war die Klosterdisziplin streng. Damals pflegten die Mönche die Klosterpforten bei Sonnenuntergang zu verriegeln, um sich zum Abendgebet zu begeben. Aber Frans liebte wie wahnsinnig die Nacht! Deshalb wartete er, bis alle ihren Zellen zustrebten, um sich dann lautlos wie ein Geist ins Erdgeschoss zu schleichen und durchs Fenster in die Nacht zu springen! Der jugendliche Frans stieg auf sein Fahrrad und legte den Weg durch die Finsternis zurück, bis er in die Stadt gelangte, wo er seine Freunde besuchte und sich Gewissheit über einige müde Familien verschaffte. Um Mitternacht kehrt er auf dem gleichen Weg ins heilige Schweigen zurück, um sich wieder hineinzustehlen durch das Fenster, aus dem er verliebt herausgestiegen war, so als ob nichts gewesen wäre.
„Sind sie dir denn nicht auf die Schliche gekommen?“ frage ich ihn mit kindlicher Ungeduld. „Doch, aber Schläge waren eines, Entkommen das andere!“ und er bricht in Lachen aus. Ich lache mit ihm, bis mir die Tränen kommen und ich Seitenstechen kriege, und blicke in sein lächelndes Gesicht.
Heute blicke ich auf dein von Kugeln durchbohrtes Gesicht, du guter alter Mann, und spüre in der Eiseskälte den Schweiß, der erneut von unseren Schläfen tropft, nach diesem langen nächtlichen Weg.
Als ich die Nachricht von deinem Märtyrertod erfuhr, stand ich da wieder am Fenster? Ja, ich öffnete es, um etwas Luft zu atmen und spürte einen Schmerz in der Seite. Frans, das Fenster, zu dem du geschlichen bist, um in die Nacht der Freundschaften hinauszugehen und wieder in dein heiliges Schweigen einzugehen, ist immer noch offen und niemand möge es je verriegeln können!

Fenster im Herzen der Belagerung

„Das Leben von Frans in Syrien war eine lange Reihe geöffneter Fenster.“ !
In bedeutenden gesellschaftlichen und politischen Versammlungen schuf Frans das Projekt „Der Marsch“. Hunderte junger Leute aus verschiedenen Gegenden und verschiedener religiöser und kultureller Herkunft kamen zusammen, um durch Syrien zu wandern und es dadurch zu erforschen. Bei dieser Erforschung pflegte Frans immer den schwierigsten Weg zu wählen.
Mitunter sagte er, dass er im Studium der Mathematik keinen Erfolg hatte, weil er nicht imstande war, die Bedeutung der geraden Linie zu lernen! Um zu irgendeinem Dorf zu gelangen, musste, wer mit ihm ging, von Grund auf das Ausziehen von Dornen lernen und in Morast und Wildnis eintauchen, an verborgenen Orten, von denen weder Menschen noch Dschinnen wussten. Daher erhob sich Murren und manche kehrten zurück und sagten sich: Wenn du am Leben geblieben bist nach diesem Marsch, geh nicht noch einmal mit diesem verrückten Mann!
Wenn Frans solche Reden hörte, wusste er, dass sie von ihrer Umkehr wiederum umkehren und zu dieser Tollheit zurückkehren würden. Und genau das passierte! Diejenigen, die gemurrt hatten, nahmen am nächsten Marsch teil und neue Murrer schlossen sich ihnen an. So schuf Frans eine neue Zivilgesellschaft, in der die Beziehungen nicht im Hinblick auf Religions- oder Ortszugehörigkeit definiert und festgelegt waren, in einer Gemeinschaft von Gleichen mit einem gemeinsamen Ziel: Die Entdeckung Syriens oder vielleicht auch seine Erschaffung, so ausgedehnt wie die Freundschaften, die beim Herausziehen der Dornen geknüpft wurden. Ein kleines Syrien wurde hier unter Verliebten geschaffen, wenn die Kleidung mit Lehm verschmiert war und sich die natürliche Schönheit auf erschöpften Körpern enthüllte, wo kein Schmuck und keine Schminke war, außer Schweißtropfen, die die Gesichter einander ähnlich machten.

Frans gründete auch das Projekt „Die Erde“, ein Fenster im Leben derer mit besonderen Bedürfnissen. So war eine Keramikwerkstatt ein Fenster im Leben der Frauen aus abgelegenen Dörfern. Frans ging noch weiter und baute ein „Friedenshaus“, wo sich Muslime und Christen und Atheisten versammelten, um über das Leben nachzudenken an einem Ort, an dem alle religiösen Symbole fehlten und an dem stattdessen der Mensch das Geheimnis des schweigenden Seins erlebte.
Frans schuf in Homs eine neue Art Kloster, um dort einen Ort des Gebets, eine Begegnungsstätte für Künstler und Forscher zu gestalten und einen Ort für Theaterspiel und Dichterlesungen, die von der Schönheit des Leibes sangen. „Nehmt, das ist mein Leib!“ Und der alte Mönch hörte und lächelte und öffnete das letzte Fenster im Herzen der Belagerung. Die Einwohner von Homs sterben vor Hunger und ich sterbe mit ihnen aus Liebe!
Ich bleibe zurück, Frans, in der Trauer um dich, aber die Trauer lähmt mich…
In seiner Rede zum letzten Abschied sagt Nevras Sammur(?): Ich möchte mich an den Letzten wenden, den Frans gesehen hat. Frans wandte sich an den, den er nicht kannte, mit den Worten „Mein Bruder“. Ich wende mich an diese Person und frage sie: „Was für ein Wahnsinn hat dich ergriffen, als du gegen ihn das Feuer eröffnetest? Hast du genügend Mut, um dem in die Augen zu sehen, der dich anblickte hat und zu dir sagte „Mein Bruder?“ Ein Blick, den du nicht vergessen wirst, solange du lebst! Ein Mensch sah dich an und nannte dich „mein Bruder“ und du hast ihn getötet!

Im Reich des durchbohrten Leibes

„Einer der der Soldaten stieß Jesus mit der Lanze in die Seite und aus ihr floss Blut und Wasser (Joh 19, 34).“ Es scheint, dass die Wunden, auch wenn sie einander ähneln, doch unterschiedlich sein müssen! Die Geschichte sagt, dass die Vorstellungskraft des Thomas, eines der Freunde Jesu (Christi), ihm nicht erlaubte, sich den Sieg der Liebe über den Tod vorzustellen. Deshalb fordert Thomas, dass er seine Finger in die von einer Lanze geöffnete Seite des Mannes legen darf, um sich seiner Identität zu versichern.
Die Geschichte sagt: Christus besucht seine Freunde erneut und fordert Thomas auf, die Finger in seine geöffnete Seite zu legen, und das war die erste Begegnung!
Thomas versuchte, die Identität des vor ihm Stehenden an der Seitenwunde zu erkennen, nicht an den müden oder von Kugeln durchlöcherten Gesichtszügen! Wenn die Seitenwunde zur Identität wird, wird der Mensch eins mit seinem Traum und das Blut vermischt sich mit dem Wasser. Aus der Seite, so sagt auch eine alte Geschichte, entnahm Gott Adam eine Rippe, um die Frau zu formen. Und damit das geschehe, ließ Gott einen tiefen Schlaf über Adam kommen. Damit die Frau sei, muss der Mann in tiefer Nacht träumen. Damit die Frau sei, muss der Mann vor Begehren brennen! Damit die Frau sei, müssen die Rippen Adams unvollständig sein! Damit die Frau sei, muss der Mann die Liebe lernen! An eben dieser Seite wurde der Gekreuzigte durchbohrt. Aus den meisten Stellen als weibliches Element in der Natur des Mannes fließt Blut und Wasser. Ein Fenster im Reich des Leibes, aus dem eine Frau geboren wird und in dem der Mann Mann wird, und aus dem eine Wasserquelle hervorkommt, um über die Niederträchtigkeit des vergossenen Blutes zu triumphieren, wenn die Wunde zur Identität wird.
Wird unsere syrische Wunde eine Identität werden, in der die Liebe über den Tod siegt?! Ich weiß es nicht, aber so erzählen es die Geschichten… Blut und Wasser!
Frans – ich erinnere mich gut, wie du mir zugezwinkert hast im Gottesdienst, auf dass ich ein reines Lied anstimme, in dem das Blut nicht triumphiert. Ich versuche, mein Lachen zurückzuhalten, damit ich nicht herausplatze. Das Blut muss mit Wasser abgewaschen werden! Kein Hass und kein Groll für deinen Mörder, sagt die geöffnete Seite, sondern ein Kuss auf die Wange dessen, der Verrat beging, und Friede, und ein Traum ist tot.
Joh 37, 19
„Der blühende Zweig verströmt seinen Duft selbst für den, der ihn brach!“ Das habe ich mir wieder und wieder gesagt. Heute, wo das Land in den Morast langwährenden Hasses taucht, kann, wer dich liebt, nur jedem, der deinen Tod wollte, wünschen, dass er eines Tages sein Fenster öffne, damit er etwas von deinem Wohlgeruch atme, du guter Mann.
„Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben!“ (Joh 19, 37)