Exerzitien in einem finnischen Frauengefängnis

FRAGMENTE DER EXERZITIEN IM FINNISCHEN FRAUENGEFÄNGNIS

von Saku Toiviainen

Ich arbeitete etwa elf Jahre als Gefängnisseelsorger in Helsinki. Schon in dieser Zeit gab es den Traum, dass wir Exerzitien in Gefängnissen haben könnten. Es war nicht möglich. Aber der Traum ist später im Frauengefängnis in Erfüllung gegangen. Marjatta, eine finnische evangelische Pastorin, hat mit mir drei Mal bei 8-tägigen Exerzitien in Hämeenlinna Frauengefängnis begleitet. Jedes Mal gab es mit uns sechs Frauen. Jetzt gibt es eine Pause und niemand weiß, ob es noch weitergeht. Mit großer Dankbarkeit denke ich an die Frauen, mit denen ich diese gemeinsame Zeit verbrachte. Hoffentlich ist es möglich etwas mit den gefangen Frauen mit diesen Fragmenten zu teilen.

  • Sie wohnte früher länger als 20 Jahre vorher in der gleichen Zelle, die wir jetzt als einen Gesprächsraum haben. „Das kann nicht nur ein Zufall sein, sondern ein Zeichen für den Beginn von etwas Neuem“, sagt sie. Wie bemerke ich ein Zeichen von einem Neubeginn in meinem Leben?
  • Täglich läuft sie in einem kleinen, viereckigen Hof, der nur für uns zur Verfügung gestellt ist. Kann sie sich selbst damit erreichen? Wie erreiche ich mich selbst?
  • Beim Ankommen erhält jede Gefangene eine eigene Nummer, die in der ganzen Strafzeit mit dem Familiennamen verbunden wird. Wegen der Nummer haben die Gefangenen oft das Gefühl, ihre eigene Identität zu verlieren. Darum finden die gefangenen Frauen es wichtig, dass wir sie bei Exerzitien mit ihren Vornamen anreden. Mit welchem Namen redet Gott uns an?
  • In der Messe am Abend zündet jede Teilnehmerin ihre eigene Kerze an, die in einem farbigen Becher steht. Die selbstgewählte Farbe des Bechers bringt etwas von der Einzigartigkeit der Teilnehmerin zum Vorschein. Wenn die Kerzen in der Messe brennen, sprechen sie nicht über Gemeinsamkeit, die in der Verschiedenheit möglich ist?
  • Die lebenslängliche Freiheitsstrafe hat sie tief geprägt. Sie definiert sich als Frau, die eine lebenslängliche Freiheitsstrafe hat. „Aber was bist du für dich selbst?“, frage ich. „Danach frage ich auch“, sagt sie. Wer definiert, was ich eigentlich bin?
  • Acht Tage Exerzitien in der Stille im Gefängnis. „Was macht ihr eigentlich in der Abteilung?“ fragt ein Wächter. „Nichts Besonderes. Wir beten, lesen, reflektieren und nehmen an der Messe teil.“ Aber ist das gerade das Besondere im Gefängnis?
  • Jeden Abend betet sie für ihre drei Kinder, die sie umgebracht hat. Hat eine Fürbitte eine Bedeutung auch in meinem Leben?
  • Wegen der siebentätigen Fahrt von Ost-Finnland nach Hämeenlinna hat sie ihre Exerzitien schon eine Woche vor dem offiziellen Anfang begonnen. Sie übernachtete in fünf verschiedenen Zellen bei der Polizei. Auf der Rückfahrt erwartet sie das gleiche. Sprechen diese Bemühungen nicht für ihre Sehnsucht?
  • „Ich nehme eure Abfälle nicht mit. Sie gehören nicht zu mir.“, sagt eine Wächterin. „Zu wem gehören sie? Wohin können wir unsere Abfälle bringen?“ Keine Antwort. Sie zieht eine starke Grenze zwischen uns. Welche Grenze ziehe ich zwischen Menschen?
  • Am letzten Tag zieht sie sich um, um auf das strenge Leben im Gefängnisvorbereitet zu sein. Mir scheint ihre schwarze Kleidung wie eine schutzgebende Mauer. Aber bemerke ich nicht meine eigene Mauer, hinter der ich mich verstecke?

Kanada: Wenn der Bischof um einen Groschen bettelt

Bischof Bolen als Obdachloser in einer Mensa (Foto: Radio Vatikan)

(aus einer Meldung von Radio Vatikan)

Ein Bischof als Bettler: Der kanadische Bischof Donald Bolen wollte es wissen. Anderthalb Tage lang hat er in seiner Bischofsstadt Saskatoon unter Obdachlosen verbracht. Hat mit ihnen in einem Park übernachtet, hat Passanten um Geld angebettelt. Wie es dazu kam, erzählte uns der frühere Mitarbeiter des vatikanischen Einheitsrats in einem Interview.

„Ich gehöre zum Aufsichtsrat einer schönen neuen Einrichtung für Obdachlose mit HIV. Ein Gesundheitszentrum mit angeschlossenem Hospiz. Als wir eine Fundraising-Kampagne machten und die Leute auf das Zentrum aufmerksam machen wollten, habe ich selbst 36 Stunden lang wie ein Obdachloser gelebt. Natürlich bin ich damit nur eingetaucht in den Ozean der Obdachlosigkeit – aber es hat mir die Augen geöffnet. Es war eine wichtige Lern-Erfahrung. Ich sehe meine Umgebung seitdem mit anderen Augen. Welche Verwundungen und Probleme Menschen haben. Aber auch, wie viele Menschen auf verborgene, aber wirklich hoffnungsvolle Weise anderen helfen.“

Bolen, der Obdachlose, tarnte sich mit Jeans, Sweatshirt, kariertem Hemd und Baseball-Kappe. Dass das der Bischof war, der da am Straßenrand stand und um eine Münze bat, hat offenbar niemand gemerkt. „Es war interessant, dass uns fast niemand angeguckt hat. Wir waren praktisch unsichtbar. Ich glaube, das ist es, was wir in der Regel mit Menschen tun, die uns auf der Straße um Hilfe oder Geld angehen: Wir machen sie unsichtbar. Für mich war das eine wichtige Erfahrung.“

Und als Kampagne hat das auch funktioniert mit dem bettelnden Bischof. „Es war sehr erfolgreich: Wir erhielten Aufmerksamkeit und auch genug Geld, um ein anderes Projekt zu starten, ein Haus für Schwangere mit HIV.“

Bolen wurde an diesem Montag versetzt, er wird Erzbischof von Regina in der Provinz Saskatchewan, einem ländlichen Gebiet, das so groß ist wie Italien, aber nur eine halbe Million Einwohner hat, darunter viele Indigene. Auf sie will er sich künftig besonders einlassen, sagt er im Radio Vatikan Interview.

Ausführlicher Bericht (englisch) auf den Seiten der Diözese Saskatoon.

Von der Inspiration biblischer Bilder

Der folgende Beitrag des Theologen Michael Schindler versucht die Idee der Straßenexerzitien mit ihrem zentralen Schrifttext der Gotteserscheinung im brennenden Dornbusch unter dem Fokus der Grenzerfahrung durchzubuchstabieren.

Als Mose als Flüchtling in Midian weilte und bei seinem Schwiegervater als Hirte arbeitete, trieb er eines Tages seine Tiere „über die Steppe hin hinaus.“[1] Der Beginn dieser dichten biblischen Erzählung von Gottes Selbstoffenbarung und Erscheinung wird mit einem Ortswechsel markiert: Mose überschreitet mit seiner Herde eine bisherige Grenze. Das ermöglicht ihm im Folgenden die Überwindung weiterer Grenzen. die Auch Begegnung mit Gott liest sich als eine Grenzerfahrung: Gott kommt Mose einerseits ganz nahe. Das gegenseitige Sehen wird in besonderer Weise betont und der Bote JHWH’s wird zu JHWH selbst.

Andererseits lässt sich Gott nicht (be-)greifen: Mose muss in gebührendem Abstand stehen bleiben, die Schuhe ausziehen und verhüllt sein Gesicht. Indem sich Mose auf Gottes Wort einlässt und sich für die ihm zugedachte Aufgabe berufen lässt, überschreitet er eine persönliche Grenze, vor der er zunächst zurückweicht, nämlich vom Ziegenhirten zum Hirten seines Volkes zu werden.

Die Dornbuscherzählung (Ex 3) als hermeneutischer Schlüssel

Die Dornbuscherzählung bildet das biblische Fundament einer noch jungen Exerzitienform, den so genannten „Exerzitien auf der Straße“. Der entscheidende Unterschied zu herkömmlichen Exerzitien ist der doppelte Ortswechsel. Man verlässt seinen Alltag und nimmt eine Auszeit, um Exerzitien zu machen. Man sucht aber auch keinen herkömmlichen Exerzitienort des Rückzugs in die Stille eines Klosters oder Exerzitienhauses auf, sondern übt stattdessen auf der Straße. Die Menschen machen sich auf, auf den Straßen einer (Groß-)Stadt den „brennenden Dornbusch“ zu suchen. Sie werden aufmerksam um zu entdecken, wo sich auf der Straße heiliger Boden für sie auftut und wo sie den Impuls bekommen, ihre Schuhe auszuziehen, d. h. inne zu halten und sich selbst zurückzunehmen, um wie Mose mit verhülltem Gesicht ins Hören zu kommen. Dieser „heilige Ort“ materialisiert sich in konkreten Orten: das kann eine Parkbank sein oder eine Bushaltestelle, ein Hinterhof oder ein historisches Denkmal. Der brennende Dornbusch kann in der Begegnung mit Menschen entdeckt werden, auch in der Begegnung mit sich selbst oder mit Dingen wie Papierschnipseln oder einem Kinderwagen.[2] Anders gesagt: Die biblische Erzählung vom brennenden Dornbusch wird zum hermeneutischen Schlüssel für die Erlebnisse auf der Straße. Sie erzählen diese jeweils am Abend in einer Kleingruppe und hören von den Straßengeschichten der anderen Übenden.

Grenzüberschreitungen auf der Straße

Im Grunde sind Exerzitien in der Tradition des Ignatius immer schon persönliche Grenzüberschreitungen. Die so genannten großen Exerzitien wollen zu einer grundlegenden Wahlentscheidung zurüsten. Sie waren nie nur als eine spirituelle Auszeit, als eine Art Wellness für die Seele, gedacht. Doch gibt es bei den Exerzitien auf der Straße eine spezifische Grenzerfahrung. Denn diese laden dazu ein, jenseits des geschützten Raums der eigenen Wohnung oder eines Bildungshauses sich auf einen geistlichen Übungsprozess einzulassen. Das beginnt schon damit, dass die Gruppe in der Regel in einer einfachen Unterkunft wohnt, die z. B. im Winter Obdachlosen als Notschlafplatz dient. Grenzen werden überschritten, wenn die Exerzitanten und Exerzitantinnen mit jemandem von der Straße in Kontakt kommen, der abgerissene Kleider trägt und nach Alkohol riecht. Grenzen werden überschritten, wenn bewusst Orte aufgesucht werden, die man normalerweise in seinem Leben meidet. Grenzen werden überschritten, wenn entdeckt wird, dass mitten im Lärm der Straße plötzlich eine Stille auftreten und jemand auf einer belebten Kreuzung ein Lied anstimmen und ins Beten kommen kann.[3]

Weiterknüpfen des biblischen Fadens

Die Geschichte von der Erscheinung Gottes im brennenden Dornbusch[4] wird in diesen Exerzitien in einer Weise verwendet, dass dieser biblische Faden gewissermaßen auf der Straße weitergeknüpft wird. Sie schärft den eigenen Blick und ermöglicht die angemessene innere Haltung für das eigene Üben auf der Straße. Und sie dient als hermeneutischer Schlüssel, um die abendlichen Erzählungen nachhallen zu lassen und zu deuten, gerade auch wenn es um die Erfahrung und Überwindung von Grenzen geht.

Lesetipps:

Christian Herwartz, Brennende Gegenwart. Exerzitien auf der Straße, Ignatianische Impulse 51, Würzburg 2011.

Michael Schindler, Gott auf der Straße. Studie zu theologischen Entdeckungen bei den Straßenexerzitien, Berlin u. a. 2016.

Christian Herwartz/Maria Jans-Wenstrup/Katharina Prinz/Elisabeth Tollkötter/Josef Freise (Hg.), Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen. Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien, Neukirchen 2016.

Dr. Michael Johannes Schindler ist Pastoralreferent in der Diözese Rottenburg-Stuttgart mit einem langjährigen Schwerpunkt in der Stadtpastoral. Ehrenamtlich ist er seit 2010 als Begleiter von Straßenexerzitien tätig, die er in einer Forschungsarbeit empirisch und theologisch untersuchte. Der Artikel wurde zuerst publiziert in Bibel und Kirche, 71. Jahrgang,  2. Heft 2016, S. 108-109

Fußnoten:
[1] So wird der hebräische Begriff „achar“ von den meisten Übersetzern wiedergegeben.
[2] Die genannten Beispiele sind einer empirischen Untersuchung zu den Straßenexerzitien entnommen (Schindler 2016). Viele weitere Beispiele von entsprechenden Erfahrungen finden sich auf der Website.
[3] Auch diese Beispiele entstammen den Interviews der empirischen Untersuchung (vgl. Schindler 2016).
[4] Ex 3,1-6 ist die grundlegende Erzählung für die Hauptphase der Exerzitien. Es gibt aber auch andere entsprechende Geschichten wie z. B. die Hagargeschichte in der Frage nach dem eigenen Gottesnamen zu Beginn der Exerzitien oder die Aussendung der Jünger und Jüngerinnen. Gegen Ende der Exerzitien steht die Emmauserzählung quasi als Relecture der Erfahrungen auf der Straße. Weitere biblische Geschichten werden in den Gottesdiensten verwendet.

Ein Psalm für Straßenexerzitien

„Respektvolles Sehen und Hören“ ist ein Leitmotiv der Straßenexerzitien. Um das Langsamwerden geht es dort, um Gottes Spuren auf den Straßen zu sehen, um seine Stimme zu hören.

Um das Sehen und Hören geht es auch in diesem schönen Psalm, den wir heute  im Gottesdienst beteten:

Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist,
und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen.

Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge,
und dein Gericht ist tief wie das Meer.
Menschen und Tieren willst du, Herr,
ein Helfer sein.

Was deine Güte ist, lehr mich begreifen,
und deine Wahrheit mach mir bekannt;
denn ich verstehe nichts, wenn du es mir nicht sagst.

Täglich umgeben mich Worte und Stimmen,
aber ich höre gar nicht mehr hin;
denn deine Stimme höre ich nicht mehr heraus.

Wenn ich nichts hören kann, hilf mir dich rufen;
hilf mir dich hören, wenn du mich rufst;
hilf mir gehorchen, wenn du mich berufen willst.

Dein Wort der Wahrheit ist unsere Bewahrung;
aus deinem Leben leben wir auch;
und wir erkennen erst in deinem Licht das Licht.

Psalmlied vom Jahr 1965 aus dem Evangelischen Gesangbuch (EG 277) basierend auf dem Psalm 36, 6-10. Der Kehrvers und die 1. Strophe sind die deutsche Übertragung des Psalmes 36, 6-7. Die Strophen 2-5 in Anlehnung an den Psalm stammen von Gerhard Valentin.

Verein für Liebesübungen

Heute ging ich recht spontan in Halle (Saale) eine Stunde auf die Straße – ohne große Erwartungen und Vorsätze. Und doch wurde ich mit einer überraschenden Einsicht beschenkt.

Auf meinem Weg kam ich an einen Laternenpfosten. Dort sah ich einen kleinen Aufkleber: Verein für Liebesübungen stand drauf, unter einem Foto, auf dem ein Mann eine Schimpansin küsst.

Das Wortspiel mit dem Vereinsnamen des VfL Halle 96 ging mir in der Folge weiter durch den Kopf.

Eigentlich, so erschien es mir, sind wir mit den Straßenexerzitien nichts anderes: ein „Verein für Liebesübungen“.

Denn „Gott ist Liebe“ – und wenn wir auf die Straße gehen, um Gott zu begegnen, dann begegnen wir letztlich seiner Liebe.

Exerzitien sind „Übungen“, und bei Exerzitien auf der Straße üben wir ein, Gottes Liebe auf den Straßen zu sehen, und zu erwidern.

Auf meinem Weg durch Halle drangen dann Posaunenklänge an mein Ohr. „Am Brunnen vor dem Tore“ und andere Volkslieder, angestimmt im Garten des Gemeindehauses der evangelischen Paulusgemeinde, aus Anlass eines Frühlingsfestes für Einheimische und Flüchtlinge.

Eine bunte Runde saß da zusammen, über alle Nationen und Hautfarben vereint. Ganz unspektakulär und doch so schön.

„Verein für Liebesübungen“ – so kam es mir dann vor – das könnte auch eine gute Beschreibung für die Kirche sein. Denn „Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave oder Freier, sondern alles und in allen Christus“, so schreibt Paulus über die Urkirche. Und Christus, das ist Liebe.

Vielleicht ist das unser Auftrag in der heutigen Zeit mehr denn je: Verein für Liebesübungen zu werden. Was denkt ihr?

 

 

Lass ihn kreuzigen! – in Clausnitz, Bautzen und anderswo

Am vergangenen Sonntag habe ich die Matthäuspassion live gehört. Gleichzeitig wurde in drei Bundesländern gewählt. In der Pause des Konzerts kamen die ersten Hochrechnungen herein. Und während in meinen Gedanken die Nachricht von den erschreckend hohen Wahlergebnisse der AfD ihre Kreise zog, hörte ich das „Lasst ihn kreuzigen!“ in der Matthäus Passion.

Da wurde mir klar, was die damalige Menge vor dem Palast der Pilatus mit den heutigen AfD- und Pegida-Anhängern verbindet. Der Schlüssel zum Verständnis ist Jesus als die Verkörperung der Nächstenliebe. Nicht obwohl, sondern weil Jesus die reine Liebe war, musste er in den Augen der Menge sterben.

Ein Blick auf Pegida-Anhänger macht das deutlich: Ihr größtes Feindbild sind die „Gutmenschen“. Ihr Bedürfnis: „Man wird ja noch mal sagen dürfen…“. Nichts ist ihnen wichtiger, als auch mal „politisch unkorrekt“ Menschenfeindlichkeit und Hass in die Welt hinausposaunen zu können. Nichts macht sie rasender als die tätige Nächstenliebe der vielen Menschen, die Geflüchteten helfen. Und AfD-Chef Alexander Gauland meint gar, man dürfe sich von Kinderaugen (der Flüchtlingskinder) nicht erpressen lassen.

Auf der Balkanroute

Wessen Herz voller Hass ist, der kann Kinderaugen nur noch als Erpressung wahrnehmen – und nicht als Anruf an das eigene Herz, mit Liebe zu antworten.

Jesus musste sterben, weil er die Liebe war – und weil seine Liebe uns Menschen angerufen hat, mit Liebe zu antworten.

Liebesunfähigkeit ist die menschliche Sünde, derentwegen Jesus sterben musste. Weil die Menschen damals Jesu Liebe nicht aushielten, schrien sie ihr „Kreuzige!“. Und aus Liebesunfähigkeit ziehen sie heute vor die Flüchtlingsunterkünfte, in Clausnitz, Bautzen und anderswo.

Wo stehen wir in diesem Geschehen?

Einfach helfen

Ein berührende Geschichte aus einer Stadt, in der auch schon öfters Straßenexerzitien stattfanden: Der griechischstämmige Gastwirt Giorgos Flourakis lässt Bedürftige kostenlos in seinem Lokal zu Mittag essen – und sein Nachbar, ein Metzger, lässt sich davon anstecken und liefert ihm das Fleisch.

München: Treffen der Begleiter/innen von Straßenexerzitien

Jeder Kurs von Straßenexerzitien wird begleitet von meist vier oder mehr ehrenamtlichen Begleiterinnen und Begleitern. Ihre Aufgabe ist es, die Teilnehmer in ihren Erfahrungen geistlich zu begleiten.

Jedes Jahr trifft sich der Kreis ehrenamtlicher Begleiter von Straßenexerzitien zu einem Jahrestreffen, um sich auszutauschen. Vom diesjährigen Treffen in München berichtet Iris Weiss (zuerst auf dem Naunynblog veröffentlicht):

Für mich war es das erste Treffen der Begleiterinnen und Begleiter von Straßenexerzitien, an dem ich am letzten Januarwochenende im spirituellen Zentrum St. Martin in München teilgenommen habe. Vierzig Menschen aus Deutschland, der Schweiz (2) und Frankreich (2) hatten sich angemeldet.

Einige bekannte Gesichter würde ich dort wohl treffen, aber großenteils würde ich auf Unbekannte stoßen – so meine Vorstellung. Einige Begleitende kenne ich, weil sie in der Naunynstraße zu Besuch waren, dort Straßenexerzitien in der Form von Einzelexerzitien machten oder als Begleitende von Straßen-exerzitien dort wohnten. Ich war nicht schlecht erstaunt, als ich feststellte, daß ich fast drei Viertel der Anwesenden bereits kannte. Ich traf sozusagen auf unbekannte Bekannte – oder andersrum, wie man es nimmt 😉 Bei der Vorstellungsrunde sollten wir uns mit einer (noch) unbekannten Person zusammentun und uns zu einer Impulsfrage austauschen (z.B. wann und in welcher Situation hast du zum ersten Mal von Exerzitien auf der Straße erfahren). Es gab mehrere Durchgänge mit unterschiedlichen Fragen und mit wechselnden Unbekannten. Ich hatte richtig Schwierigkeiten unter den bis zu diesem Zeitpunkt Anwesenden so viele Unbekannte zu finden. Von einigen Leuten, die im letzten Jahr seit ich dazugekommenbin in der Naunynstraße waren, hatte ich gar nicht gewußt, daß sie zum Kreis der Begleiterinnen und Begleiter gehören.

Das Vorbereitungsteam hatte Lebensmittel gekauft, die Räume und das Abendessen vorbereitet. Alles andere lag in der Verantwortung der gesamten Gruppe. Wir sammelten die Fragestellungen, die uns auf dem Herzen lagen und entwickelten daraus, welche Themen bedacht werden sollten.

So wurde etwa der Stellenwert einzelner “Basics” in den Blick genommen und daraufhin befragt, was diese aus der Sicht von Teilnehmenden und aus der Sicht von Begleitenden bedeuten. Welchen Stellenwert hat die abendliche Erzählrunde, in der Erfahrungen des Tages benannt werden können? Wie ist das mit den abendlichen Gottesdienst als freiwilligem oder verbindlichem Angebot? Mit großer Offenheit und großem Respekt konnten die unterschiedlichen Sichtweisen thematisiert werden.

Christian wies darauf hin, daß in Zukunft der Anteil der Priester, die Straßenexerzitien begleiten werden, kleiner werden wird. Von daher werden die Begleitenden vor der Herausforderung stehen, in der jeweiligen Situation kreativ Gottesdienstformen zu entwickeln und andere Arten von Impulsen auszuprobieren. Diese Realität war mir bis dahin noch gar nicht in den Blick gekommen, weil bei den Straßenexerzitien, die ich bis jetzt begleitet habe, immer mindestens ein katholischer Prieser und eine evangelische Pfarrerin begleitet haben.

Ein besonderes Highlight am Samstagabend war die Lesung aus dem Buch über Straßenexerzitien (Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen), das im Februar 2016 erscheinen wird. Erst beim Begleitertreffen im letzten Jahr war die Idee zu diesem Buch entstanden. Sechs Interessierte haben sich zusammengefunden und innerhalb eines Jahres das Buch auf den Weg gebracht. Dreißig Teilnehmende haben ihnen dabei geholfen indem sie eigene Erfahrungen mit Exerzitien auf der Straße aufgeschrieben haben. So ist eine gute Mischung aus Theorie und praktischen Erfahrungen entstanden. Und aus diesem Erfahrungsschatz wurde vorgelesen. Bei einem solchen Vorhaben finde ich es eine anspruchsvolle Aufgabe, die Balance zu finden, an Persönlichem Anteil zu geben und doch die Distanz so zu wählen, daß die spirituelle Intimsphäre des Einzelnen gewahrt bleibt. Das fand ich bei den Erfahrungsberichten, die ich gehört habe, sehr gelungen.

Die Anteilnahme und das Interesse wie es in der Naunynstraße nach dem Weggang von Christian weitergehen wird, war sehr groß. Deshalb machten wir dazu am Sonntagmorgen eine Runde, in der Christian, Michael und ich unsere unterschiedlichen Sichtweisen und auch die Prozesse, in denen wir sind, zur Sprache bringen konnten. Ich fragte am Anfang meines Beitrages, wer noch nicht in der Naunynstraße gewesen ist. Es meldeten sich gerade mal zwei Leute. Mir hat das nochmals deutlich gemacht, daß die Gruppe der Begleitenden eine Verbindung zur Naunynstraße hat ohne daß mir das vorher so bewußt gewesen wäre. Auch nach einzelnen Mitbewohnern wurde gefragt. Und als noch viele Lebensmittel übrig waren, hieß es: “Das kann doch die Naunynstraße brauchen”.

Den Abschluß des Treffens bildete ein Gottesdienst, in dem wir die Texte, die in der evangelischen Kirche an diesem Sonntag dran waren, zu uns sprechen ließen und im gemeinsamen Austausch (deutsch und französisch) auf die Straßenexerzitien bezogen.

In der Lesung aus Jesaja 55 hieß es:

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben…”

Im Gleichnis vom Sämann (Lukas Kapitel 8,4 ff) ging es um die Saat, die auf ganz unterschiedlichen Boden fällt und was mit ihr passiert:

Als wieder einmal eine große Menschenmenge aus allen Städten zusammengekommen war, erzählte Jesus dieses Gleichnis: “Ein Bauer säte Getreide aus. Dabei fielen ein paar Saatkörner auf den Weg. Sie wurden zertreten und von den Vögeln aufgepickt. Andere Körner fielen auf felsigen Boden. Sie gingen auf, aber weil es nicht feucht genug war, vertrockneten sie. Einige Körner fielen zwischen die Disteln, in denen die junge Saat bald erstickte. Die übrige Saat aber fiel auf fruchtbaren Boden. Das Getreide wuchs heran und brachte das Hundertfache der Aussaat als Ertrag.”

Gottesdienst 3
Gottesdienst mit einer senegalesischen Trommlergruppe

Ein besonderes Geschenk waren einige geflüchtete junge Männer aus dem Senegal, die regelmäßig im spirituellen Zentrum St. Martin trommeln. Sie brachten sich als Muslime mit einem Gebet und später mit ihren Trommeln ein. Christian ermutigte sie – soweit sie das wollten – auch zu den Texten etwas zu sagen. Dann teilten wir Wasser und Brot miteinander. Mich hat berührt, daß die Senegalesen sich als Glaubende an verschiedenen Stellen im Gottesdienst einbringen konnten und nicht auf die exotische Sonderrolle derer reduziert wurden, die etwas Musikalisches “beitragen” durften wie ich das leider schon erlebt habe.

Auch wenn ich danach müde war, so hatte dieses Wochenende für mich etwas Ermutigendes und Stärkendes. Wer von den Teilnehmenden mag, kann gerne in den Kommentaren noch ergänzen, was hier noch nicht oder zu wenig benannt ist.