Erfahrungen von Strassenexerzitien unter Corona-Bedingungen

Lutz Müller SJ

Einzelexerzitien in Köln

Als ein gelungenes Experiment habe ich es empfunden, als ich Ende Mai 2020 Strassenexerzitien in Köln machte. Unter Corona-Bedingungen ist es ja herausfordernd, auf der Straße unterwegs zu sein. Abstand, Hygienemaßnahmen und Alltagsmaske stellen mich auf die Probe, wie ernst und konsequent ich dies auf der Straße befolge. Folgendes war für mich gut lebbar:

  • Ich suchte mir ein gastfreundliches Kloster, das mich als Einzelgast aufnahm. Das waren die Karmelitinnen, bei denen ich auch täglich die hl. Messe mitfeierte.
  • Da ich allein ohne Gruppe unterwegs war, suchte ich mir einen Begleiter, der sich täglich eine halbe Stunde Zeit nahm.
  • Die Stadt Köln bietet Wohnungslosen, Obdachlosen und anderen Armen eine gute Infrastruktur der Hilfe. Mir scheint, dort ist ein guter Ort, um Strassenexerzitien zu machen.

So hatte ich einen Rahmen vorgefunden und geschaffen, unter dem ich dies ausprobieren wollte. Als mein Hauptplatz stellte sich die Treppe vor dem Hauptbahnhof heraus, direkt unterhalb des Domes. Das ist ein Platz voller Menschen mit vielen Bewegungen. Dort passieren nicht nur Reisende aus aller Welt, sondern viele Kölner machen dort Pause; die Straßenreinigung hält den Platz im 30 Minuten Takt sauber, weil es ein Vorzeigeobjekt ist; mehrere Gruppen von Obdachlosen treffen sich, über den Tag verteilt. Verschiedene Künstler versuchen dort ihr Glück, Menschen anzuziehen. Es herrscht aber ein solches Gewusel auf dem Platz, dass fast alle nach kurzer Zeit entnervt weiterziehen zum Domplatz hinauf.

Ich lernte auch den Neumarkt kennen, ein Treffpunkt von Dealern und Drogenkonsumenten. Ein sehr verschmutzter, großer, unappetitlicher Platz, wo ich mich nur unwohl fühlte. Am Appellhofplatz war es einsam, dort trafen sich meist nur einige Männer, die ich vom HBF her kannte. Eine Kontaktaufnahme gelang mir nicht.

Zur Verpflegung: Der Sozialdienst katholischer Männer verteilte wochentags eine Frühstückstüte. Oft war die Schlange der Anstehenden länger und größer als die Zahl der Tüten. Dort fiel mir die Kontaktaufnahme leicht. Mit einem der Männer kam ich intensiver ins Gespräch. Als er anfing, mich über meinen Herkunftsort Essen auszufragen, welche Anlauforte es dort gäbe, merkte ich, wie wenig ich über meine Stadt wusste….

Die Pfarrei St. Maria in der Kupfergasse verschenkte täglich ab 14 Uhr belegte Brote in großer Menge. Dort waren auch immer Leute unterwegs. So kam ich in puncto Ernährung gut über die Runden.

Zur Begleitung: Unter der einfühlsamen Begleitung von Markus Röntgen wurden mir zusätzliche Aspekte meines Weges bewusst. Täglich traf ich ihn für 30 Minuten in einer Kirche in Bahnhofsnähe zum Gespräch. Es war schön, einen kompetenten Kollegen zu erleben, der aus eigener Erfahrung informiert Fragen stellte, Anteil nahm an den Fragmenten meiner Tage, mir zuhörte und mich so begleitete. Sehr interessant waren seine selbst verfassten Haikus (japanische Kurzgedichte) von Begegnungen mit dem Selbst und dem Fremden.

Mit Maske war es mühsamer als ohne, aber es ging. Auf der Treppe am Bahnhof konnte ich gut auf Abstand achten. Da ich eine knappe Woche mich täglich dort aufhielt, konnte ich wiederholt mit einigen Obdachlosen gut in Kontakt kommen. So merkte ich, wie sehr sie sich umeinander kümmerten, sie Blickkontakt mit den Polizeistreifen hielten, sie sich auf Fremde wie mich einließen, die nicht auf ihre Bettelaktionen reagierten. Schwierig fand ich die Gruppe rumänischer (?) Bettler, die systematisch die Region um Dom und HBF abliefen. Als ich versuchte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, konnten sie kein deutsch.

Ein Novum war für mich meine Intuition, mich unter die Flaschensammler zu mischen. Das war eine vielschichtige Erfahrung. Ich spürte an mir Ekel, in dunkle Mülleimer zu fassen wegen des Drecks; Frust, wenn jemand anders vor mir gerade alles abgegrast hatte und ich also leer ausging; Ambivalenz, wenn ich anderen Sammlern begegnete; Scham, wenn mich andere Passanten dabei beobachteten; eine Mischung von Erfolgsfreude und Peinlichkeit, wenn ich die Flaschen in einem Discounter einlöste… Ich merkte, wie diese Sammler allein unterwegs waren. Das Flaschensammeln ist eine Aktivität, die den Tag füllen kann.

Ob ich dabei irgendwann Gott begegnet bin, weiß ich nicht. In jedem Fall bin ich Brüdern und Schwestern von der Straße begegnet. Manchmal entstand eine Nähe, meistens blieb Fremdheit. Vielleicht war das der verborgene Gott…

Kurs in Essen

Nach meiner Woche in Köln folgte bald darauf mein Kurs in Essen, den ich ausgeschrieben hatte als Veranstalter und Begleiter. Drei Teilnehmende rangen sich trotz Corona durch (allerdings ohne Lockdown Bedingungen) und kamen ins Abuna-Frans-Haus. Eine Woche verbrachten sie in der Ruhrmetropole, die sich gut eignet für Straßenexerzitien. Drei Personen konnte ich gut in Einzelzimmern in unserem Haus, das eine WG mit Flüchtlingen beherbergt, unterbringen. Wie üblich, gab es morgens einen Morgenimpuls mit Frühstück, tagsüber waren alle unterwegs auf der Straße, abends kochte meist eine/einer aus der Gruppe ein Abendessen vor der Austauschrunde. Diese nenne ich lieber „Lesezeit“, weil es darum geht, die Erfahrungen des Tages miteinander aufzunehmen, stehen zu lassen und zu lesen. Mir scheint, das Wort „Lesezeit“ bringt dies deutlicher zum Ausdruck als der Begriff „Austauschrunde“.

Unsere Eucharistiefeiern fanden fast jeden Tag an einem anderen Ort statt. Meist konnten wir Elemente aus der Lesezeit des Vortags integrieren. So feierten wir im Park, an einem Brunnen, im Gewerbegebiet, vor einer verschlossenen Kirche, im Garten und in der Kirche.

Die Teilnehmenden machten naturgemäß ganz verschiedene Erfahrungen, je nachdem wie sie unterwegs waren: allein, mit Fremden, barfuß, kommunikativ oder schweigsam, mit persönlicher Agenda, suchend, mit oder ohne Geld, mit oder ohne Handy, mit oder ohne Blasen an den Füßen, sich öffnend oder sich verschließend, …

Es ergaben sich verschiedene Räume innerhalb der Straßenexerzitien: ein Bibliolog, ein Grillabend, eine Fußwaschung, Begegnungen mit den Flüchtlingen des Hauses, gemeinsames Kochen,…

Am letzten Tag, ein Sonntag, hielt ich in der Gemeindemesse eine Predigt zu den Straßenexerzitien. Ich freute mich sehr, als alle drei Teilnehmenden sich entschlossen, ein Zeugnis einzubringen und etwas von ihren Erfahrungen auf der Straße mit der Gemeinde zu teilen. So stand Corona nicht täglich im Mittelpunkt, prägte dennoch den Umgangsstil miteinander, verhinderte aber nicht die Exerzitien.