Kann ein Lächeln verloren gehen?

von Christoph Albrecht SJ

Ein Mann, der einsam ist, ein Pfarrer, der ihn nicht anschaut, ein Lächeln, das verloren geht. Auch mir hätte schon mal ein bewusster, wohlwollender Blick genügt, um die tiefe Sehnsucht nach Leben zu stillen. Umso wertvoller meine Erfahrungen mit Exerzitien auf der Straße.

«Nach dem Gottesdienst stand der Pfarrer am Ausgang der Kirche und grüßte alle, auch wenn er wegen der Corona-Krise niemandem die Hand geben konnte. Leider hat er mich nicht angeschaut.» Das sagte mir kürzlich ein Mann, der öfters unter Einsamkeit leidet.

Auch ich erinnere mich an Situationen, wo ich gerne Beachtung gefunden hätte, ein bewusster, wohlwollender Blick hätte genügt. Doch der kam nicht. Ein schleichendes, dumpfes Gefühl, für andere nicht zu existieren, überkam mich damals. Ist es dem Menschen auf dem Kirchplatz auch so ergangen? Was hätte ein bewusster Blickkontakt bei ihm wohl verändert? Was hätte die Begegnung beim betreffenden Pfarrer ausgelöst? Ich kenne ihn. Er ist nicht einer, der über die Köpfe der Menschen hinwegblickt. Es mag ein dummer Zufall gewesen sein. Wenn er einen Fehler gemacht hat, dann lag dieser wohl in der Meinung, viele Menschen im gleichen Moment persönlich begrüßen zu können. Das ist eine vorprogrammierte Überforderung.

Ich wollte nun meinerseits das eben Ausgesprochene nicht überhören und fragte nach: «Hättest du gerne mit ihm gesprochen?» Er: «Nein, ich hätte ihn in diesem Moment nicht aufhalten wollen, aber ich hätte ihm gerne mein Lächeln geschenkt. – Weißt du», sagte er weiter, «wir übersehen so viele Dinge im Leben, die uns glücklich machen wollen. Hätte er mich nicht übersehen, wären wir beide beschenkt weitergegangen. Auch ich übersehe immer wieder Dinge und nur manchmal bemerke ich im Nachhinein überhaupt, dass ich was übersehen habe. Unsere Aufmerksamkeit ist so begrenzt, dass ich mich manchmal frage, ob wir nicht halbblind durchs Leben gehen. Würden wir all das wahrnehmen, was uns an Eindrücken geschenkt wird, wären wir vielleicht auch dankbarer für die Fülle eines Tages. Oder würden wir das Leben kaum aushalten, weil wir wohl auch mehr negative Eindrücke zu verarbeiten hätten?»

Unser Gespräch entwickelte sich weiter. Worauf sind wir aufmerksam? Und worauf nicht? Was steuert unseren Blick auf die Welt? Erkennen wir nur, was wir bewusst beachten, oder sind wir fähig, uns von etwas völlig Neuem überraschen zu lassen, sozusagen aus dem Nichts  Aufmerksamkeit für etwas zu entwickeln, das wir vorher nie beachteten? Ich musste an wichtige Erfahrungen während den Exerzitien auf der Straße denken. Das sind geistliche Übungen, wo wir nicht in einem Bildungszentrum oder in einem Kloster meditieren, sondern irgendwo in der Stadt. Die Gruppe der Übenden trifft sich zwar jeden Abend mit den Begleiter*innen am Ort einer einfachen Unterkunft, doch tagsüber lässt sich jede und jeder so, wie es gerade möglich ist, auf das ein, was ihr oder ihm unterwegs begegnet. Offen für Menschen und für Begebenheiten, die ich sonst schnell mal übersehe, komme ich dabei immer auch mit meiner eigenen tiefen Sehnsucht nach Leben in Kontakt. Seltsam und fast paradox, dass meine sowieso immer beschränkte Aufmerksamkeit auf wesentliche Dimensionen meines Lebend gelenkt wird, ohne dass ich das planen könnte.

Ich bin froh um die Erfahrungen der Straßenexerzitien. Sie ermutigen mich, auch im Alltag nicht ängstlich und angestrengt nach den Lücken meiner Aufmerksamkeit zu suchen, sondern mich bewusst immer wieder in eine Stimmung zu versetzen, in der ich ansprechbar bleibe für andere Menschen, interessiert, neue, mir unbekannte Phänomene wahrzunehmen, und größere oder feinere Zusammenhänge zu erkennen.

Vielleicht haben Sie in diesem Sommer Gelegenheit und Zeit, unverplant und unverzweckt an Orten zu verweilen, wo man nicht nur mit bestimmten Privilegien hinkommt.

Vielleicht mögen Sie die Geschichte von Mose (in der Bibel Exodus 2 und 3) lesen. Eines Tages geht Mose als Schafhirt über das Gewohnte hinaus in die Wüste. Er entdeckt einen brennenden Dornbusch, der nicht verbrennt. Er hat also hingeschaut und bemerkt, dass hier etwas ungewöhnliches vor sich geht. Als er näher kommen möchte, hört er eine Stimme, er soll seine Schuhe ausziehen, er stehe auf heiligem Boden. Und dann spricht die Stimme seinen eigenen tiefen Schmerz an: «Ich habe die Not meines Volkes gesehen, ich habe ihre Schreie gehört.» Mose wird aufmerksam auf eine Wirklichkeit, die weit über seine eigenen Sorgen hinausgeht und ihn doch auch persönlich betrifft. Er kann es nicht fassen und schöpft doch einen unglaublichen Mut für neue Schritte in eine Richtung, die er sich nie von selbst zugetraut hätte.

Oder vielleicht inspiriert Sie diese Kurzgeschichte. Vielleicht eben nicht nur an Weihnachten…

Ins Herz Gottes gelangen

Weihnachten

schien mir eine gute Gelegenheit,

das Kloster jenseits der Zeit aufzusuchen.

Am Fuss des Aufstiegs jedoch sass ein blinder Bettler,

und als ich näher kam,

um ihm ein wenig Geld zu geben,

hörte ich ihn wimmern:

«Wer nimmt mich mit ins Herz Gottes?»

Unmöglich konnte ich weitergehen.

Wer würde ihn ins Herz Gottes mitnehmen?

Ich setzte mich ihm gegenüber.

Ich nahm seine Hände.

«Gemeinsam», sagte ich,

«gemeinsam werden wir ins Herz Gottes gelangen».

Aus: Theophan, Das Kloster jenseits der Zeit

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog der Schweizer Jesuiten.