6 Christian Herwartz, Liebe FreundInnen!

Liebe FreundInnen!

Statt es erst in einem Tagebuch festzuhalten, schreibe ich es Euch gleich: Erlebnisse der letzten Woche.

Für einen Exerzitienkurs hatten wir in der letzten Juliwoche nach Kreuzberg eingeladen – wir, die „Ordensleute gegen Ausgrenzung“ in Berlin. Das ist eine ganz kleine Gruppe von Menschen aus verschiedenen religiösen Frauen- und Männergemeinschaften. Wir tauschen uns aus über die Praxis unseres Glaubens im Kontakt mit Menschen, die in unserer Gesellschaft ausgegrenzt werden. Manchmal meditieren und beten wir zusammen, besonders alle drei Monate vor den Mauern des Abschiebegefängnisses in Köpenick. Da stehen wir und andere Interessierte vor der Berliner Mauer, der Mauer um Westeuropa, hinter der die Menschen bis zu 18 Monaten festgehalten werden, die gegen keines unserer Gesetze verstoßen haben, aber die einfach nicht hier leben sollen. Wir blicken über diese Mauer in den „Rest“ der Welt. Unser Gebet, unsere Klage wandelt sich im Laufe der Jahre; wir finden immer neue Zeichen, unsere Anliegen auf den Punkt zu bringen: Blumen für die BesucherInnen, am Eingang des furchterregenden langen Ganges zu den Sprechaquarien (kleine Boxen, in denen man Gefangene hinter Glas sehen kann), Steine (Bitten) zusammengelegt zu einem großen Kreuz, flackernde Kerzen auf einer langen Tapetenrolle mit unseren Wünschen in vielen Sprachen, Transparente mit der Aufschrift „Palast deutscher Gastfreundschaft“, „Menschenrecht für alle“ usw. usw. Vielleicht ahnt Ihr, wie unsere gesellschaftlichen Mauererfahrungen an diesem Ort besonders gegenwärtig werden. Dazu gehören auch die Erfahrungen mit der berühmten Berliner Mauer, die unser Land teilte, aber ebenso die „Mauergrenze“ mit ihren vielen Toten, die ganz in unserer Nähe an der Oder mit neuester Technik eingerichtet wurde. All die Mauerbauer fordern unseren Widerstand heraus. Die Hochsicherheitswelt ist nicht die uns von Gott verheißene Welt, nach der wir uns ausstrecken wollen. Hier vorm Gefängnis ist die Ungerechtigkeit besonders greifbar. Doch ich will nicht länger von unseren Erfahrungen vor dem Abschiebegewahrsam an der Grünauerstraße schreiben, obwohl ich damit schon mitten beim Erzählen von den Exerzitien bin.

Vor einem Jahr hat Schwester Teresa aus Vechta gefragt, ob wir einen Exerzitienkurs in Kreuzberg für ihre Gemeinschaft „Schwestern unserer lieben Frau“ anbieten können. Die Gemeinschaft würde ihr 150jähriges Jubiläum im Jahr 2000 feiern. Und auf der Suche nach ihren Ursprüngen wäre Berlin-Kreuzberg doch ein guter Ort, fündig zu werden. Sie hätten ja als arme Schulschwestern begonnen. Heute ist Teresa Lehrerin an einem Gymnasium. Das ist eine gute Arbeit und doch ist auch eine Spannung zu der Berufung ihrer Gemeinschaft und darin auch zu ihrer eigenen zu spüren. Schwester Teresa hatte im Jahr zuvor einen Monat bei uns in Kreuzberg und in der Wagenburg bei Barbara gelebt. Teresa hatte danach ihren Mitschwestern viel von ihren Erlebnissen erzählt. Jetzt wollte sie, daß auch sie hier eigene Erfahrungen machen konnten.

Fünf Schwestern hatten sich zu dem Exerzitienkurs angemeldet. Dazu kam noch eine Frau aus Dortmund, ein junger peruanischer Comboui-Missionar aus Nürnberg und ein Jesuit aus Berlin, der leider nach einigen Tagen mit einer fiebrigen Erkältung nach Hause ins Bett mußte.

Und wir Begleiter waren zu viert: Kleine Schwester Ulrike (Putzfrau), Annette Westermann von der Gemeinschaft Charles de Foucauld (Frauenseelsorgerin im Bistum), Stefan Taeubner (Seelsorger besonders für die hier illegal lebenden Vietnamesen) und ich (Lagerarbeiter, seit 1.4.2000 arbeitslos) von den Jesuiten. Wir hatten in unserer Gruppe im letzten Jahr wiederholt von unseren eigenen Exerzitienerfahrungen gesprochen und danach gesucht, wie wir die Gruppe empfangen und begleiten könnten. Der Ort für die Exerzitien war bewußt gewählt und sollte mit seinen Herausforderungen genutzt werden: Die Schönheit des Zusammenlebens von Menschen verschiedener Kulturen und Religionen und der Schmerz vielfältiger Ausgrenzung.

In der Gemeinde St. Michael wurden wir herzlich aufgenommen. In den Kellerräumen des Gemeindehauses gibt es jeweils während des Winters eine Notübernachtung für obdachlose Männer. (Nebenbei: Später wurde mir erzählt, daß Peter Faber – einer der ersten Jesuiten – bewußt während seiner Exerzitien in den Kohlenkeller gezogen ist. Dieser Ortswechsel hat ihm sicherlich geholfen, wie ja auch Ignatius in Höhlen gehaust hat, als er die Grundzüge der Exerzitien aufgeschrieben hat. (Manche nennen diese Zeit auch die Urexerzitien.) Auch wir durften die Kellerräume der Notübernachtung nutzen, ja das ganze Gemeindezentrum zum Schlafen, Essen, Beten, für den Austausch, Begegnungen; und auch die Kirche, die sich sehr gut mit ihren vielen Winkeln und Ecken für das stille Gebet, für das Nachhausekommen, für die gemeinsamen Gottesdienste eignete. Wir konnten dort jederzeit aus- und eingehen. Ja, die Gemeinde hat sich gefreut, daß diese Exerzitien in ihrer Mitte stattfanden. Dazu gehören auch die Franziskanerinnen. Sie wohnen in einer kleinen Gemeinschaft auch in den Gemeinderäumen. Mit ihnen feierten wir einmal einen Gottesdienst und sie luden uns danach zum Abendessen ein. Dabei erzählten sie uns, wie sie in der Zeit hier in Kreuzberg einen neuen Blickwinkel auf die Wirklichkeit bekommen haben.

Die Tage begannen mit der Begrüßung am Freitag, dem 21. Juli 2000 um 18 Uhr und einem einfachen Abendessen: Spaghetti und Tomatensoße. Manche waren noch nie in Berlin, andere schon einige Male. „Was mag uns hier erwarten?“ Vieles war fremd, auch befremdend. Aber es gab gegenseitige Hilfe unter den TeilnehmerInnen, so daß die Hindernisse bald beiseite geräumt waren. Vieles ist uns erst hinterher erzählt worden. Zum Beispiel unser selbstverständliches duzen der Gruppe.

Am Abend haben wir uns gegenseitig vorgestellt, etwas von Berlin und Kreuzberg erzählt und vorgeschlagen, den Samstag zum Ankommen zu nutzen. (Manches ist für mich durch die folgenden Erfahrungen schon so weit weg, daß es mir nicht mehr spontan einfällt.) An diesem ersten Abend haben wir auch dargelegt, wie wir uns den äußeren Ablauf der nächsten Tage vorstellen und die Gruppe gebeten, am Samstag abend eine Entscheidung zu treffen.

Es sollten keine Service-Exerzitien werden. Hier gibt es keine Dienstleister im Hintergrund, die z.B. am Nachmittag einen Teewagen mit Kaffee, Kuchen und Geschirr diskret bereitstellen und wieder hinausfahren. Eine Zeit für das Frühstück, Morgengebet, Abendessen mit wechselnder Vorbereitung wurde vereinbart. Fürs Mittagessen hat jede/r selbst unterwegs gesorgt. Das war kein Problem. Abends um 17 Uhr war jeweils die Eucharistiefeier – meistens von den BegleiterInnen vorbereitet. Es wurde gern gesungen.

Aber dann haben wir vorgeschlagen, daß wir vier Ordensleute gegen Ausgrenzung uns zu je zwei aufteilen und jeweils vier von den Exerzitanten gemeinsam begleiten wollten. Das war unser Vorschlag, über den dann am Samstag abend in der ganzen Gruppe nach einer Austauschrunde über den Ankunftstag entschieden werden sollte. Die Alternative wäre Einzelbegleitung, vielleicht nur teilweise, und Wegfall der Gruppen am Abend gewesen. Keine/r hatte mit einem solchen Vorschlag gerechnet, aber alle haben sich einmütig auf diese Form der Begleitung eingelassen, die dann am Sonntagabend begann.

Der Samstag morgen begann mit einem Gebet und einer Meditation, die Annette angeleitet hat. Anschließend sind wir in die Kirche gegangen, in der an verschiedenen Stellen an die ehemals ganz nahe Berliner Mauer, die zerrissene Gemeinde, die Gemeindebeziehungen nach Brasilien erinnert wird.

Die einzige große Austauschrunde am Samstag abend schloß mit einer Anregung für die Meditation am nächsten Tag.

Wo sind eigene Unrechtserfahrungen, Unrecht, das mich innerlich wütend macht? Warum rege ich mich gerade darüber so auf? Ich sehne mich nach einem anderen Verhalten? Will Gott, der diese Sehnsucht in mein Herz gelegt hat, darüber seinen Namen für mich offenbaren, mit dem ich ihn anrufen darf? (Bei Ignatius wird dieser Einstieg in die Exerzitien Fundamentbetrachtung genannt, in der ich mir nochmals klar mache, von welchem Glauben ich in diesen Tagen ausgehe und auf den ich auch in Krisensituationen zurückkommen kann.) Manchmal geschieht es, daß der/die Übende in den folgenden Tagen immer wieder auf den jetzt entdeckten Namen Gottes zurückgreift und Gott sie/ihn so auf eine ganz direkte Weise begleitet. Die menschlichen ExerzitienbegleiterInnen sind ja nur HelferInnen dabei, die das Geschenk bekommen, die Spuren des Wirkens Gottes und aller Gegenkräfte sehen zu dürfen, selbst bewegt zu werden und auf einiges hinzuweisen, was beim Suchen und Annehmen des eigenen Charismas helfen könnte. Die BegleiterInnen steuern die Exerzitien nicht. Sie gestalten sich vom Inneren jeder/s Übenden her. Sich vom inneren Auge leiten lassen, so hat eine Teilnehmerin den Exerzitienprozeß beschrieben. Durch die Kleingruppenbegleitung haben die TeilnehmerInnen sich auch gegenseitig Anstöße gegeben. Die Gruppengröße von drei bis vier Personen hat sich als sehr gut erwiesen.

Wo sind die Orte in Berlin, in Kreuzberg, an denen ich besonders zu diesem inneren Sehen herausgefordert werde? War schon bald die Frage der TeilnehmerInnen. Sie waren auf manches in der näheren oder weiteren Umgebung von St. Michael aufmerksam geworden: Die Ausstellung Topographie des Terrors, der Raum der Stille im Brandenburger Tor, in den Menschen aller Religionen zum Gebet eingeladen sind; die Hinrichtungsstätte Plötzensee, der Kinderbauernhof in der Nähe.

Solche Orte sind Heilige Orte für mich, so wie der brennende Dornbusch für Moses ein Heiliger Ort wurde. Er war neugierig dorthin gelaufen, weil er etwas nicht Gewöhnliches, etwas nicht Alltägliches wahrnahm: einen nicht verbrennenden Dornbusch. Als er näher kam, sollte er die Schuhe ausziehen, da es ein Heiliger Ort sei, an dem Gott mit ihm sprechen wollte.

Welche privilegierten Orte gibt es hier, die für einzelne zu heiligen Orten werden könnten, an denen Gott zu ihnen sprechen will? Wie mögen die unscheinbaren „Dornbüsche“ dort aussehen? Die TeilnehmerInnen haben nach Anregungen gefragt und ich habe angefangen, Orte aufzuschreiben, an denen ich mir vorstellen kann, daß sie sie mit Respekt betreten, wo sie die Schuhe ihres Herzens ausziehen – die des Besserwissens, des Analysierens, die Abschirmenden, die Respekt Einflößenden, die zum Verstummen Bringenden – wo sie sich einladen lassen und hören könnten. Das Papier mit den Orten war schnell voll geschrieben. Und dabei hatte ich wohl die wichtigsten Orte noch nicht notiert, diejenigen nämlich, wohin die Menschen aus ihrem inneren Gespür heraus – sei es Liebe oder Angst – von ganz alleine hingehen und verweilen. Trotzdem habe ich ihnen die Liste gezeigt, die ja nur eine Anregung für das eigene Suchen sein sollte. Es geht nicht darum, viele Orte aufzusuchen, sondern diejenigen, an denen sich in mir etwas bewegt, nachdem ich sie als heilig entdeckt habe. Vielleicht ist es in der ganzen Woche nur ein Ort. Dann ist es gut so. Ignatius rät immer vom Vielwissenwollen in den Exerzitien ab und rät dazu, bei einer Übung zu bleiben, in der ich bewegt werde. Das gilt ebenso für diese Perikopen der Straße. Auch hier sind die Wiederholungsbetrachtungen am selben Ort oder anderswo in der Stille sehr wichtig, um dem Geist Gottes auf die Spur zu kommen und ihm Wirkmöglichkeit einzuräumen. Dabei gibt es sehr schmerzhafte und freudige Etappen.

An manchen heiligen Orten muß ich vielleicht lange am Rande stehenbleiben, an anderen kann ich mich schneller ins Geschehen einreihen wie in einer Suppenküchenschlange oder auf dem Sozialamt. Ohne in die Einzelheiten zu gehen, schreibe ich mal einige Stichworte von der Liste ab:

Der Drogenplatz am Kottbusser Tor oder am Bahnhof Zoo – Obdachlosengruppen am Alexanderplatz, Görlitzer Bahnhof… – Türkische Frauengruppe in den Parks – Türkisches Bad für Frauen in der Schokoladenfabrik – Vietnamesengroßmarkt in der Rhinstr. 100 – Abschiebehaft Frauen (Kontakt Weiße Schwestern) Männer (Kontakt JRS) – Wagenburgen – Café positiv – Regenbogenfabrik – Kinderzirkus – Jugendzentrum Böcklerpark – Versammlungshaus der Aleviten in der Waldemarstraße – Camii z.B. Mevlanamoschee am Kottbusser Tor nur für Männer mit Teestube – für Frauen Möglichkeiten über die deutsch-muslimische Gemeinschaft – Synagoge Fränklinstraße – Grab von Domprobst Lichtenberg in der Hedwigskirche – Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park – Stasiknast in Hohenschönhausen – Stasizentrale – Mauermuseum /Mahnmal / Versöhnungskirche aus dem Baustoff der Armen: Lehm an der Bernauerstraße.

Nach dem Zusammenschreiben dieser Liste hatte ich das Gefühl, eine Bibel in der Hand zu halten. Die Punkte der Heiligen Orte verdichteten sich und ich ahnte mehr vom Evangelium der Straße. Bei der Auswertung hat eine Teilnehmerin später von Exerzitien auf der Straße gesprochen.

Die Exerzitanten hatten schon längst begonnen, ihre Wege zu suchen und sich von innen her leiten zu lassen. Im direkten Gespräch nach den Tageserzählungen fielen mir dann noch viele andere Orte ein, die jetzt für die / den Einzelne/n dran sein könnten. Oft waren es die scheinbar unwichtigen Begebenheiten, die sie weitergeführt haben:

Der ganz kurze Kontakt mit einem Berliner – ein Bettgestell unter einer Brücke der Hochbahn (dort schläft „Erwin“ schon seit Jahren) – der „lächerliche“ Heiratsantrag eines Türken, in dem die sich dort wiederholenden Worte anrührten (2 Tage später) – die Frage einer Bettlerin – der Rauswurf auf einer Wagenburg – der geschäftliche Umgang im Abschiebeverwahrsam – die Antworten der Passanten vor dem Abschiebegefängnis auf die Frage, was sie vor diesem Gebäude empfinden würden (Da kann man sich nur schämen) – das fassungslose Stehen vor Gefängnismauern und ein Kind, das seine Hand durch einen Spalt entgegenstreckt – das Gesehenwerden vor / in der Suppenküche – die Einladung auf eine Wagenburg – die Einladung eines Obdachlosen.

Das scheinbar Unwichtige deuten lernen, ist die Chance der Exerzitien, denn Gott spricht gerade in diesen leisen Hinweisen, wie er für Elia am Berg der 10 Gebote nicht im Sturm, sondern im ganz leichten Luftzug anwesend war. Wieviele Widerstände setzen wir dieser Offenheit dem Kleinen und für die Herrschenden und Geschäftigen Unscheinbaren entgegen? Dann ist es mal eine Kinderhand oder die Frage eines Kindes, die uns entwaffnet. Wir sind selbst Teil dieser Welt der Terminpläne, aber auch der Verletzungen und Schwächen.

Wir haben uns jeden Abend in den kleinen Gruppen getroffen und uns zugehört. Von wo mögen für die / den Einzelne/n wichtige Impulse für das eigene Suchen gekommen sein? Mehr von den Begleitern, mehr von den Mitexerzitanten? Ich weiß es nicht. Aber ich habe gesehen, wie wichtig für alle, alle Erzählungen, jedes Suchen waren. Manchmal war eine Pause, ein Lied gut, um wieder neu zuzuhören. Es wurde immer wieder still, auch beim Essen. Es gab kein formelles Stillschweigegebot. Aber keine/r wollte die Haltung des inneren Sehens verlassen, nichts totreden – und so wurde es immer wieder still, aufnehmend, reinhörend – ganz von alleine.

Ja, alle hatten schon einige Male Exerzitien gemacht. Sie konnten schweigen. Trotzdem hat es alle neu überrascht, wie sehr sie in den Tagen durch verschiedene Etappen geführt wurden. Es gab Tage des Schmerzes, der Auferstehung, der Heilung, des Alltags. Viele sind wohl mit mehr Fragen als Antworten weggefahren. Eine sagte, daß sie eingebrochen sei in den Laufsteg des Alltags, über den sie sich über viele Fragen hinweggerettet hätte. Eine andere, daß sie sich darauf freut, weiter das Geschenk ihrer Berufung auszupacken.

Diese Exerzitienbegleitung war eine dichte Erfahrung für mich, in der ich die Freude gespürt habe, daß mein Leben eine Brücke sein kann, über die auch anderen das Geschenk der Begegnung mit den Menschen hier anvertraut wird, und daß sie über diese Kontakte heil werden dürfen. Es waren keine Vorträge nötig. Die Exerzitanten konnten selbst auf ihren Wegen diese Erfahrung machen. Das war eine große Ermutigung für mich, die Führung Gottes an ihren Früchten zu erkennen. Da gehe ich frohgemut weiter. Das Sprechen über diese Erfahrungen ist auch während der Exerzitien immer ein dürftiges Unterfangen.

Am Sonntag, dem 30. Juli war Abreisetag. Den Abschlußgottesdienst nach einer letzten Austauschrunde hatten wir am Abend vorher gefeiert. Jetzt wollte sich die Gruppe für die Gastfreundschaft der Gemeinde bedanken, indem sie ihr von ihren Erfahrungen erzählte. Es war ein sehr schöner und bewegender Gemeindegottesdienst. Zwei Teilnehmerinnen blieben zum anschließenden Frühstück und konnten auf Rückfrage noch manches erzählen und Kontakte eingehen.

Die Tage danach bedeuteten für mich, vom Berg der Hochstimmung in den Alltag hinabzusteigen. Die anderen BegleiterInnen waren vielleicht ihrer Alltagsarbeit intensiver nachgegangen und sind jeweils nur abends nach Kreuzberg gekommen. Ich lebe hier und die regelmäßige Fabrikarbeit hat aufgehört. Was ist jetzt mein Alltag? Ich weiß es noch nicht recht zu umschreiben. Es ist der Übergang von einem Lebensabschnitt zum anderen. Ein „Umzug“, bei dem viel Liegengebliebenes nochmals durchgegangen werden muß. Mit solch einem „Umzug“ ist – religiös gesprochen – immer die Hoffnung verbunden, einen Schritt in die größere Armut, d.h. in die Offenheit Gott gegenüber zu gehen. Und ich bin sehr gespannt, welche Hemmschuhe ich fallen lassen kann, welcher Armutsschritt mir geschenkt wird. Bei den Jesuit European Volunteers heißt ein Grundsatz „Einfach leben“. Ruth, mit der ich die Berliner JEV-Kommunität die letzten zwei Jahre begleitet habe, bringt diesen Grundsatz gern auf den Punkt: „Nicht kompliziert leben“. Das neue Loslassen von allem Komplizierten und falschen Anhänglichkeiten von Gütern, Ansehen usw. ist im Kern ja ein Ja, ein größeres Annehmen der Realität und darin auch des mir geschenkten Charismas. Womit ich wieder bei den Exerzitien wäre.

Am Ende der letzten Woche stand die deutliche Bitte, solche Exerzitien der Heiligen Orte zu wiederholen. Ja, das wäre ein Auftrag an mich, sagten mir die drei BegleiterInnen. Ich will ihn annehmen. Auch Franz, mit dem ich zusammen wohne, ermuntert mich dazu und ist erstaunt, daß diese Exerzitien erst im nächsten Sommer am selben Ort stattfinden sollen. Doch vorher wären sie wohl schwer zu organisieren. Es sei denn, es kämen spontane Anfragen.

Als neuer Termin für die nächsten Exerzitien an (städtischen) Brennpunkten wurde gestern festgelegt: 27. Juli bis 5. August 2001. Als Veranstalter sind wieder die Ordensleute gegen Ausgrenzung angefragt. Eingeladen werden sollen Ordensleute verschiedener Gemeinschaften. Aber das ist kein ausschließendes Kriterium. Die Anmeldung läuft über Sr. M. Teresa Jans-Wenstrup, Postfach 1452, 49363 Vechta, 04441-947170 (Fax 7562) oder über mich.

Soweit mal für heute mein „Tagebucheintrag“. 3. August 2000

Dieser Bericht wurde zusammen mit dem folgenden Brief der Pfarrsekritärin Frau Krause im Gemeindebrief St. Marien-Liebfrauen mit der Kirche St. Michael, Berlin-Kreuzberg im September 2000 veröffentlicht.

Birgid Krause: Grüße aus dem Pfarrbüro St. Michael

Lieber Christian!

Als ich Deinen Bericht über den Exerzitienkurs für den Gemeindebrief ein wenig besser lesbar (in Spaltenschreibweise) aufbereitet habe und also Satz für Satz in der ganzen Intensität seiner Aussage aufnahm, da war ich innerlich ganz aufgewühlt und ein wenig traurig, daß ich solche Exerzitien noch nicht erleben konnte. So wie Du Deine Eindrücke und Erfahrungen schilderst, müssen die Menschen, die an diesen Exerzitien teilgenommen haben, unaussprechlich reich beschenkt worden sein!

Offenen Auges und mit weitem Herzen durch die Welt zu gehen, in sich hineinzuhören und heilige Orte zu entdecken, das bleibt wohl den meisten Menschen versagt in ihrer Hektik und Betriebsamkeit. Was für ein Verlust! – Als behindertem Menschen, wie ich einer bin, ist einem diese Fähigkeit und ich möchte fast sagen, diese Gnade, manchmal geschenkt. Ich lebe deshalb intensiver, sehe Vieles, was andere nicht sehen können und danke Gott mit vielen kleinen Stoßseufzern dafür, daß ich all das Schöne, all das Gute, die ganze Herrlichkeit seiner Schöpfung erleben kann; nicht selten sehe und spüre ich auch all die Tragik, die Trauer, die Schwierigkeiten, in denen Menschen stecken können, das Leid, das sie ertragen müssen und das an ihren Nerven zehrt, die Hoffnungslosigkeit, die sie fast verzweifeln läßt…

Für mich ist seit 20 Jahren mein Arbeitsplatz hier im Pfarrbüro ein Heiliger Ort. Ich habe es nur bisher nicht gewußt!

Deshalb danke ich Dir sehr für Deinen ausführlichen „Tagebucheintrag“ und wünsche Euch allen, daß es noch viele heilige Orte zu entdecken gibt während der kommenden Exerzitien.

in: Gemeindebrief St. Marien-Liebfrauen mit der Kirche St. Michael, Berlin Kreuzberg September 2000, S. 15 – 23