Exerzitien am anderen Ort: Straßenexerzitien als geistliche Erfahrung durch fremde Orte

Exerzitien auf der Straße sind vor etwa zwanzig Jahren in Berlin geboren worden. Christian Herwartz und seine Wohngemeinschaft in Kreuzberg, vor allem auch Gäste, die an diesem besonderen Ort Gastfreundschaft erfahren haben, sind zu der Überzeugung gekommen, dass im anderen Umfeld, in der „Fremde“ eine Spur Gottes zu entdecken ist. Am anderen, ungewöhnlichen und ungewohnten Ort Gott zu suchen, wurde zu einer Bewegung, die inzwischen weit verbreitet ist und „Straßenexerzitien“ genannt wird.

Von Maria Jans-Wenstrup und Klaus Kleffner

Wie in allen Exerzitien geht es darum, einen geistlichen Blick bzw. ein geistliches Suchen einzuüben. Das ist eigentlich ganz einfach und wird vor allem dann ermöglicht, wenn sich jemand darauf einlässt, sich mit dem zu beschäftigen, was schlicht da ist – auch mit dem Fremdartigen. Darum geht es bei Exerzitien grundsätzlich: Das wahrzunehmen und wahr sein zu lassen, was in mir und um mich herum ist. Das sind Regungen, Bewegungen, Situationen, meine Umwelt, meine Mitmenschen und die Beziehung zu ihnen – und darin die Spur des Geheimnisses, das wir Gott nennen.

Die Straße als Anders-Ort

Bei den Exerzitien auf der Straße ist es besonders leicht, auf solch eine Spurensuche zu gehen; nur nicht mehr in einem Exerzitienhaus oder in einem Kloster, sondern nun am anderen Ort. Als suchendem Menschen auf der Straße wird mir tatsächlich die Straße zu einem Ort der Besinnung, d.h. die ganz normale Umwelt, in der ich mich bewege: z.B. eine Parkbank, auf der ich sitze und einfach Menschen wahrnehme. Vielleicht setzt sich jemand zu mir und spricht mich an, oder es fragt mich einer nach dem Weg oder nach einem Euro oder ich werde auf ein Bier eingeladen. Und dann geht es los: In mir regt sich Widerstand: „Der soll mich in Ruhe lassen!“ – Ich fremdel, weil ich gern Distanz hätte. Und dann ist mein erstes Thema da: Wie zugänglich bin ich? Oder ich spüre, dass es mich in eine Moschee zieht, und bemerke beim Betreten dieser mir fremden Welt, dass mich die Betenden dort herzlich aufnehmen, dass Berührungsängste sich auflösen. Es kommen Fragen am Anders-Ort auf, etwa: Wie hoch sind eigentlich meine eigenen Schwellen, wie fremd bin ich – wie fremd sind mir die anderen? Der andere Ort mit seinen anderen Menschen – das Andere – wird mir zur Anfrage. In Straßenexerzitien werde ich ermuntert, das Andere zuzulassen, voller Neugier loszugehen in „fremde Welten“. Und dann nehme ich wahr, was in mir damit geschieht, wie sich vielleicht etwas öffnet, wie Widerstände gegen das Fremde zugelassen, angenommen und verwandelt werden.

Das Leben während der Exerzitien auf der Straße als Anders-Ort

Schon die Unterbringung bei den Straßenexerzitien ist ein solcher Anders-Ort. Sie ist einfach; oft da, wo Menschen von der Straße auch wohnen. Die Teilnehmenden, die Geld einbringen können, werfen anfangs etwas in eine Kasse, daraus wird eingekauft und gekocht, oder es gibt Lebensmittel von einer Tafel. Es fallen nur geringe Kosten an – und wer sich die Anreise nicht gut leisten kann, darf im Vorfeld auch nach Unterstützung fragen. Ziemlich anders also, was das Geld angeht – und damit nicht ökonomisch ausschließend – auch das ist eine Erfahrung von Anders-Orten, an denen auch ein anderes Zusammenleben möglich wird.

Von den Bedingungen während der Exerzitien her geht es ebenfalls anders zu: Man muss keine Exerzitien-Vorerfahrungen mitbringen, es gibt keine Zugangsbeschränkungen für die Teilnahme, die „Übungen“ während der Straßen-Exerzitien sind ziemlich schlicht: hinschauen, hinhören, riechen, tasten, schmecken – sich zu Herzen gehen lassen, anstecken lassen…

Dennoch ist das für den einen oder die andere gar nicht so leicht, wie es sich anhört. Es sind Exerzitien im Vollsinn des Wortes, denn es geht um das Üben. Wer auf die Straße geht, kommt in einen Prozess des Befremdens und Befreundens, er wird sich auseinandersetzen, sich dann vielleicht auch unangenehmen Entdeckungen um sich herum und in sich selbst stellen müssen, dem Fremdartigen im eignen Leben. Zum Beispiel wird jemand, der im Ruhrgebiet Straßenexerzitien macht, kaum daran vorbeisehen können, wie viele Arbeitslose auf den Straßen sind – wie viele Leute tagsüber Zeit haben. Wenn mich das berührt, könnte ich wütend werden auf die sozialen Verhältnisse; dankbar oder beschämt, dass es mir vielleicht anders geht; nachdenklich über meinen Umgang mit Zeit…

Die biblische Neu-Gier auf das Andere

Am besten wird diese Suche nach dem Anderen am anderen Ort an der biblischen Geschichte deutlich, die von Anfang an so etwas wie eine „Bedienungsanleitung“ für die Exerzitien auf der Straße geworden ist: Mose am brennenden Dornbusch (Exodus 3). Darin sieht Mose während seiner alltäglichen, gewöhnlichen Arbeit des Schafe- und Ziegenhütens diesen eigentlich ganz gewöhnlichen Busch in der Wüste brennen und er wird neugierig, rennt nicht einfach weiter – oder achtlos daran vorbei -, sondern geht näher hin, um sich die außergewöhnliche Erscheinung anzuschauen. Er geht ein Stück über das Gewohnte hinaus, an den Anders-Ort. Und hier wird er zum Staunenden. Erst hier wird es möglich, dass Gottes Stimme ihn ansprechen kann. Und das Erste, was sie ihm sagt, ist der Befehl stehen zu bleiben und die Schuhe auszuziehen, achtsam zu sein auf sich selbst hin und auf dieses Gegenüber.

Die Begleitenden und die Gruppe als gottoffene Anders-Orte

Die Erlebnisse eines Tages, die offen und neugierig wahrgenommenen Ereignisse und Begegnungen offenbaren oft im Nachhinein eine Spur des Anderen. Zu diesem „Nachhinein“ gehört auch das Sprechen über die Erfahrungen des Tages. In den Exerzitien auf der Straße gehört darum wesentlich der Austausch am Abend dazu. Konkret sieht das meistens so aus, dass sich eine kleine Gruppe von vier oder fünf Menschen bildet, die sich jeden Abend trifft und in der vom eigenen Tag erzählt wird: An welchen Orten bin ich gewesen, was habe ich dort erlebt? Die Anderen hören zu. Auch die beiden begleitenden Personen, die zu den Straßenexerzitien eingeladen haben, hören zu.

Im Aussprechen wird dem Erzählenden oft deutlicher, was unter der Oberfläche des Erlebten an innerer Erfahrung steckt. Wenn ich einmal ins Wort bringe, was ich wahrgenommen habe – oder hier nach Worten ringe -, wird mir selbst klarer, was es bedeutet. Mir ging es einmal so, dass ich an einem Tag von mehreren Brüdern auf der Straße nacheinander angesprochen wurde. Am Ende stellte sich heraus, dass sie alle den gleichen Vornamen hatten wie ich: Sie hießen alle Klaus. Das hatte ich gar nicht so registriert. Aber beim abendlichen Erzählen in der Gruppe wurde mir auf einmal deutlich, dass sie mich auf mein eigenes Unbehaustsein, meine Suche nach einem Zuhause, angesprochen hatten mit meinem Namen – und dass im „Draußen zuhause“ etwas mir ganz persönlich Wichtiges liegt.

Soweit ist das noch nichts Spezifisches für Straßenexerzitien; dass ich dem Begleiter meine Dinge sage, geschieht ja in der Regel in anderen Exerzitien auch. Das Erzählen am Abend in der Gruppe bei den Exerzitien auf der Straße ist jedoch eine ganz besonders schöne und intensive Form des Begleitgesprächs. Nach dem Erzählen einer Person reagieren nämlich die Anderen (!) auf das Gehörte. Die Anderen in der Gruppe stellen ihre Resonanz auf das Gehörte zur Verfügung. Das tun die beiden einladenden Begleiter, aber auch die anderen Teilnehmenden, wenn sie möchten. So entsteht in der Gruppe ein Resonanzraum für die inneren Regungen und Bewegungen (manchmal auch für die körperlichen „Erzählungen“), die derjenige, der erzählt hat, annehmen kann oder auch nicht. Jedenfalls helfen diese anderen Echos weiter, die Erlebnisse des Tages zu deuten und den einen oder anderen brennenden Dornbusch im Nachhinein zu entdecken. Und noch etwas: Durch das Erzählen der anderen werde ich selber für die eigenen Erfahrungen doppelt sensibilisiert. Ich mache sozusagen die Exerzitien der anderen mit, ohne die Themen zu vertauschen oder mich vergleichen oder gar messen zu müssen.

So begleiten und ermutigen sich alle gegenseitig. In dieser Form des vertrauensvollen und geschützten Erzählens, des wachen und liebevollen Hinhörens und im respektvollen Dazulegen dessen, was die einzelnen in ihrem Herzen spüren, werden oftmals die Mit-Exerzitien-Teilnehmer zu brennenden Dornbüschen. In diesem Begleitgespräch in der Gruppe verwirklicht sich die Begleitung der Heiligen Geistkraft, die die eigentliche Begleiterin von Exerzitien ist.

Die Geschwister im Erzählen werden zu Geschwistern im gemeinsamen Hören auf den Geist. Unvorhersehbar stellt sich in dieser Art des Begleitgesprächs darin oft eine neue Erkenntnis ein, ein Impuls für den nächsten Tag, ein Hinweis. Diese demokratische Form des Begleitens kennt kein „Besserwissen“ oder „Bescheidwissen“ eines Experten, sondern sie ist eine gemeinsame Suche nach dem Ort, an dem Gott anspricht, ein Spüren nach den Anregungen des Geistes. Das Grund-Charisma, sich gegenseitig begleiten zu dürfen und zu können, wird zu einer Quelle der Erkenntnis unterwegs, ähnlich wie bei den Emmaus-Jüngern.

Hier kommen noch die Begleiter oder Begleiterinnen auf der Straße ins Spiel: Nicht nur Orte werden zu brennenden Dornbüschen. Auch in Menschen, die mir auf der Straße begegnen, kann plötzlich die brennende Gegenwart Gottes vor mir stehen, manchmal in einem ganz kurzen Kontakt wie im Vorübergehen – so macht Gott das wohl öfter. Mir ging es einmal so, dass mir am Tag, als ich ohne Geld losgegangen bin, eine bettelnde Frau ihre Hände entgegenhielt und um eine Gabe bat. Ich schaute sie an – und sie sah mir direkt ins Gesicht. Ich sagte beschämt: „Ich habe nichts.“ Und sie antwortete mit strahlenden Augen: „Ich weiß!“ Das ging mir durch Mark und Bein. Ich habe nichts, ich Habenichts! Das traf mich in einer Situation, in der ich vieles im Leben loslassen musste. Ich bin mir durch diese Frau meiner Armut und meiner Bedürftigkeit, meines Angewiesenseins bewusst geworden – und dass ich mich dafür nicht schämen muss. Die Frau ist mir in einem Augenblick zur Begleiterin geworden, in der mir Gott etwas mitgeteilt hat, eine Wahrheit in meinem Leben.
Das Begleiten der Anderen ist sehr intim und ein kostbarer Schatz.

„Brennpunkte“ als Anders-Orte?

Der brennende Dornbusch legt es nahe: Was sind „Brennpunkte“, was nennen wir in unseren Städten so? Orte, wo Menschen in Armut leben, wo es häufiger (sichtbare) Konflikte gibt, wo verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, wo oft auch Leben auf der Straße stattfindet; Orte, wo die Anderen wohnen. Sind solche Stadtteile eher geeignet, zu „brennenden Dornbüschen“ zu werden, Anders-Orte zu sein, an denen mir Gott oder das Vermissen Gottes besonders eingehen?

Gott kann mir überall begegnen. Zugleich gibt es die Erfahrung, dass die Orte nicht egal sind. Damit bin ich auf gut jesuanischem Boden. Nur an einer Stelle im Evangelium sagt Jesus ausdrücklich, wo Gott zu finden ist. In Mt 25 verweist er eindeutig auf die Hungernden, Dürstenden, Nackten, Kranken und Gefangenen – eben die Anderen. Wenn wir nach einem Ziel suchen, zu dem wir uns in den Exerzitien auf der Straße auf den Weg machen, tun wir also gut daran, uns an seine Empfehlung zu halten. Dabei geht es aber ja weder um Hilfstätigkeit noch um Sozialtourismus, sondern um meine Suche nach Gott im Anderen. Ich selber bin also die Bedürftige und sehne mich danach, Gott zu begegnen, mehr vom Leben und von mir selbst zu verstehen, Sinn und Richtung für mein Leben zu finden.

Einmal wurde ich mit der ganz existentiellen Frage nach Gott während der Straßenexerzitien in eine Psychiatrie geführte und brauchte dort lange, bis ich mich getraute, jemanden anzusprechen, meine Orientierungslosigkeit zu zeigen und zu fragen: Wo finde ich denn nur Gott? Da war es eine starke Erfahrung, wie nacheinander drei ganz verschiedene Menschen, die dort Patienten waren, mich mit meiner Frage ernst nahmen und versuchten, mir zu helfen mit ihrer eigenen – anderen – Sicht.

In der Begegnung mit Armen kann ich leichter meine eigene Armut entdecken, in der Begegnung mit Gefangenen mein eigenes Gefangensein, in der Begegnung mit An-den-Rand-Gedrängten mein eigenes Rand-Dasein. Das ist nur möglich, wenn solche Begegnungen in großer Achtung vor dem Anderen, auch vor seinem Anderssein stattfinden. Ein Grundsatz für die Begegnung mit dem Anderen ist hier wegweisend: Ich kann nur bis an den Rand meiner eigenen Möglichkeit gehen; dort muss ich warten, bis der Andere mich herüberruft über diese Schwelle, mich zu sich einlädt. Oder eben auch nicht. Dann ist vielleicht gerade das Abstandhalten(-Müssen) meine Lernchance für heute.

Das Horchen auf Jesus als Anders-Ort

So wie die „Straße“ nicht nur die Asphaltstraße ist, sondern eine andere Wirklichkeit meint, nämlich Jesus als die Straße – er hat gesagt: Ich bin der Weg! -, so ist auch das Schweigen eher eine innere Haltung, nämlich die Bereitschaft, zu hören, wahrzunehmen. Wo ist Gott – wo berührt er mich?, lautet die Frage. Das werde ich nur erahnen, wenn ich innerlich gehorsam geworden bin – und nicht nur das Gewohnte hören will, sondern bereit werde, Anderes zu hören, anders zu hören. Insofern sind die Straßenexerzitien ein Einüben in das Schweigen mitten in der Welt, aber nicht in ein Schweigen als Selbstzweck, sondern in ein Schweigen, um das Hinhören und den Respekt zu ermöglichen. Vor-Urteile dürfen wahrgenommen, als hinderlich erlebt und schließlich abgelegt werden, wie die Schuhe am Dornbusch, die die Berührbarkeit behindern; die lauten Stimmen, die mich abhalten von Begegnungen, die subtiler und unscheinbarer sind. Auch der Respekt vor dem Geheimnis und der Andersartigkeit der Menschen, die mir „auf der Straße“ begegnen, letztlich vor Gott selber, wird aus der Stille geboren. Die Achtung des Anderen wächst aus Schweigen und Hören.

Es gibt auch das Schweigen, weil ich sprachlos geworden bin – weil mir meine Vorstellungen und Gottesbilder aus der Hand genommen werden und sich eben der ganz Andere zu Gehör bringt, vor dem ich staunend zugeben muss: Mir fehlen die Worte! Es gab einmal jemanden bei den Straßenexerzitien, der war abends im Austausch zu keinem Wort fähig, weil er so eine Erfahrung gemacht hatte: Schweigen aus Rührung, aus Angerührtsein, aus Ehrfurcht vor der Kostbarkeit, dass sich Gottes Geheimnis in einem Großvater gezeigt hatte, der den Kinderwagen mit dem Enkelkind ganz behutsam übers Kopfsteinpflaster geschoben hatte.

Manchmal werden die Orte, an denen sich jemand aufhält, zu solchen Schweigeorten: Selbst der Essener Hauptbahnhof wurde das einmal für eine Gruppe, trotz des äußeren Lärms und der hektischen Geschäftigkeit und Zielgerichtetheit der Reisenden. Eine zweckfreie, unvoreingenommene Haltung konnte wachsen und nach Einbruch der Dunkelheit wurde im Wartehäuschen auf dem Bahnsteig ein intensiver Austausch im Hören möglich. Oder das Einkaufszentrum in Duisburg, wo die „Goldene Leiter“ mitten drin zu einer Verbindung zum Himmel wurde – für die, die nicht mit Scheuklappen daran vorbeirasen, sondern innerlich zu hören beginnen. Gerade um „draußen“ in der Welt hinzuhören, sind Exerzitien auf der Straße eine Übung, die beglücken kann durch Stimmen, Signale, Geräusche im Gerausche, die mich anders ansprechen.

Schweigen und Stille werden bei den Exerzitien auf der Straße auch wichtig, wenn es um Begegnungen mit Menschen geht, sowohl während des Tages draußen, als auch am Abend in der Gruppe beim Austausch. Da gibt es oft Momente, wo zunächst niemand etwas sagt, sondern erst einmal ein Nach-Innen-Horchen angesagt ist: Pausen, das Warten aufeinander, das Klingenlassen des eben Gehörten, das geduldige Zuwarten auf Gott hin, der sich nicht auf Kommando hörbar macht, sondern sich seine Spalte im Gerede sucht. Da offenbart sich der Heilige…

Der heimische Alltag als neu entdeckter Ort des Anderen

Dieses „Üben auf der Straße“ kann auch in den Alltag nach der eigentlichen Exerzitienzeit mitgenommen werden, wenn es eine Grundhaltung wird, die mein ganzes Leben prägt und in die ich mich auch immer wieder bewusst einschwingen kann. Die Kernworte dieser Haltung sind Neugier, Erwartung und Spürsamkeit für das Andere. Diese Bereitschaft, sich überraschen zu lassen und zu staunen, kann dann zuhause, am vermeintlich vertrauten heimatlichen Ort einen Perspektivwechsel nach sich ziehen, durch den ich meine Umwelt anders anschauen lerne; ich kann tiefer schauen, genauer hinhören, durch-blicken auf das Andere, das sich im Vertrauten versteckt hält.

Durch das „Üben auf der Straße“ kann diese Suchbewegung und Bereitschaft immer mehr Teil des Alltags werden: Wenn ich mit einer Neugier herumlaufe, einer Erwartung, die auch im Banalsten damit rechnet, dass da etwas „für mich“ drin sein kann, das mir eine unerwartete Freude schenkt oder das mich in Frage stellt… Da braucht es keine spektakulären Ereignisse, sondern je feiner ich zu spüren lerne, desto achtsamer werde ich auf die scheinbar kleinen, alltäglichen Dinge, die mein Ich weiten auf den/die/das Andere hin. Und manchmal wird mir in der nachträglichen Reflexion bewusst, dass mitten darin etwas von dem Ganz-Anderen gegenwärtig war.

Die andere Heiligkeit der „Straße“

Zwei Zitate illustrieren die Straßenexerzitien als Einübung in die Wahrnehmung der Anders-Orte. Zum Einen das bekannte Wort von Alfred Delp: „Die Welt ist Gottes so voll.“ Und zum Anderen eine Wendung von Madeleine Delbrêl, die von der Gottsuche „in der Banalität des Alltags“ spricht. Das Heilige ist nicht weit weg vom „Gewöhnlichen“, sondern es ist mittendrin in dem, was unser Leben ausmacht. Da, „mitten auf der Straße“, mein Herz dafür weit werden zu lassen, ist der tiefste Sinn der Exerzitien auf der Straße. Diese andere Heiligkeit der Straße wird an Orten geschenkt, wo sich ein Mensch auf das Andere einlässt.

Maria Jans-Wenstrup und Klaus Kleffner, in: Lebendige Seelsorge, 2013 (68) September Heft 3, S. 215 – 220