Vera Rüttimann, Gott auf der Strasse suchen

Geistliche Übungen im Lärm der Grossstadt statt in der Abgeschiedenheit eines Klosters. Eine verrückte Idee. Die Gruppe Ordensleute gegen Ausgrenzung bietet genau dies an: Strassenexerzitien.

Berlin-Kreuzberg.

Menschen unterschiedlicher Nationen leben auf engem Raum zusammen, viele ohne gültige Papiere. Der Ort, ein Schmelztiegel, aber auch ein multikulturelles Armenhaus. Mitten im pochenden Herzen dieses Bezirkes liegt eine Jesuitenkommunität. Die Bewohner leben direkt über der Kneipe, die den Namen „Tor zur Hölle“ trägt. Mancher, der hier Unterschlupf fand, hat die Hölle meist gerade hinter sich: heimatlose Jugendliche, Alkoholiker und Obdachlose. „Sie sind uns zu geistigen Lehrmeistern geworden“, umschreibt Jesuit Christian Herwartz seine Erfahrung. Unlängst klopfte jemand mit der Bitte an ihre Tür, hier Exerzitien machen zu dürfen. Hier? Die Jesuiten zögerten. Der Mann bestand auf seinem Wunsch, verlegte seine Exerzitien kurzerhand auf die Strasse und besuchte dabei Drogenplätze, Suppenküchen und Obdachlosenheime. Herwartz war von dieser Form der Exerzitien fasziniert. Seitdem bietet er diese geistige Übungsform auch in anderen Ländern an.

Exerzitien einmal anders

Auch nach Basel ist eine Gruppe angereist, um sich diesem Experiment auf der Strasse zu stellen. Die Teilnehmenden kommen aus Deutschland und der Schweiz. Es sind Menschen, die anderen Religionen und Denkweisen offen gegenüberstehen. Dennoch: Selbst Helga, eine Ordensfrau aus Köln, kann sich unter Strassenexerzitien vorerst wenig vorstellen. Exerzitien in der Stadt, im Lärm des Verkehrs und inmitten von Menschenströmen statt in der Abgeschiedenheit eines Klosters. Eine verrückte Idee. So dachten wohl viele. Aus lauter Neugier haben sich viele dann doch angemeldet. Es wird anders gestartet als bei Schweige-Exerzitien. Die Herausforderung liegt nicht in der Zurückgezogenheit, sondern mitten im Leben, auf der Strasse. Auch der Schlafort in Kleinbasel ist bewusst gewählt. Ein Stockwerk tiefer befindet sich die Gassensuppenküche der Caritas.

Christian Herwartz und sein Basler Begleiter, der Jesuit Christoph Albrecht, der die Strassenexerzitien mit viel persönlichem Engagement vorbereitet hat, schicken die Exerzitanten, mit dem Bibelzitat „Ziehe deine Schuhe aus“ auf den Weg. Dieses Bild ist einer biblischen Geschichte entnommen: Auch Mose musste seine Schuhe ausziehen, als er den heiligen Boden betrat, auf dem Gott ihn zum Dienst für sein Volk berufen hat. „Jeder Boden wird heilig, wo Gott dem Menschen begegnen will. Ob vor einem unscheinbaren kratzigen Dornbusch oder einem bettelnden Obdachlosen“, erläutert Herwartz. „Die Schuhe auszuziehen ist der Beginn, mitten in der Welt der Vorurteile neu in ein Nichtwissen zu treten, respektvoller zu werden vor den Menschen – auch gegenüber der eigenen Lebensgeschichte, die wir hinterfragen müssen.“ Die Exerzitienteilnehmer gehen so auf den Weg mit den Fragen: Welche Dornbuschorte gibt es für mich? Welche dornigen Themen, die ich in meiner Lebensgeschichte lieber umgehe, ! als sie zu besuchen?

Voyeurismus?

Monika macht sich auf den Weg in die Basler Innenstadt. In ihren Rucksack hat sie eine Zahnbürste, den Pass und den Versicherungsausweis, ein Minimesser und eine Wasserflasche gepackt. „Man weiss ja nie“, sagt die Münchnerin, die zu Hause bei der Bahnhofsmission arbeitet. Was sie bewusst nicht dabei hat, ist ein Schlafsack. Auf einer Bank neben einem Fahrscheinschalter sieht sie einen Jungen, der bettelt. Er bittet um einen alten Fahrschein. Erst geht sie an ihm vorbei, gibt dem Fahrscheinkasten das eingeforderte Geld – und stutzt. Schwerfällig geht sie zurück und fragt, weshalb er dort sitze. Interesse kann man nicht erzwingen, aber plötzlich ist es da. Der Junge merkt, die Frau ist keine Voyeurin mit „Sozialarbeiter-Interesse“. Zaghaft entsteht ein Gespräch. Später fragt sie ihn: Welche Orte sind für dich so bedeutsam, dass du mich dorthin schicken würdest? Wohin soll ich gehen, um euer Leben zu verstehen? Der Junge stutzt, denkt lange nach. Wenn sie es vertragen könne, so! solle sie zu der Betonnische unter der Autobahn gehen, wo Strassenkinder hausen.

Abgewiesen

Als Monika die obdachlosen Kinder in ihrer zugigen Nische aufsucht, spürt sie eisige Ablehnung. Ihr Blick wird nicht erwidert, läuft ins Leere. Tag für Tag sucht sie die Kinder auf, die Stimmung bleibt feindselig. Bis einer das Schweigen durchbricht und eine vorsichtige Annäherung stattfindet. „Für mich ist das ein Ort, wo der Dornbusch brennt, der mich auf eigentümliche Weise anzieht und abschreckt. Ich spüre die Intimität dieses Raumes, nicht einfach hineinspazieren zu dürfen“, schildert Monika ihre Eindrücke. Erstmals spürt sie den Schmerz des Abgewiesenseins, aber auch die Härte von Mauern in der Gesellschaft, was es für Menschen bedeutet, ausgestossen zu werden. „Es waren kostbare Stunden mit ihnen, in denen ich lernen musste, die Schuhe vorher auszuziehen und mich möglichst auf Zehenspitzen zu nähern, um nicht durch plumpes Interesse noch mehr kaputtzumachen, als es sowieso schon ist“, resümiert sie selbstkritisch.

Mit nackten Füssen

Am Abend kommen die Teilnehmer zurück in die Herberge und erzählen von ihren Wegen, ihrem Suchen und ihrem langsamen Nähern an die Orte, die sie persönlich als wichtig, als aufwühlend erfahren haben. Auch von den entdeckten Schwierigkeiten, den Ängsten, den Dornbüschen in ihrem Leben. Sie haben in Basel das Arbeitsamt, die Babyklappe oder ein Gräberfeld für Obdachlose aufgesucht. Helga aus Köln sieht in diesen Exerzitien einen Beitrag, persönliches Ausgrenzungsverhalten zu überwinden, auch wenn damit manchmal schmerzhafte Etappen der Selbsterkenntnis verbunden sind. „Die darüber erfahrene Freude jedoch ist ein Licht mitten in den alltäglichen Ereignissen, durch das Zukunftsperspektiven sichtbar werden.“ Wie der Alltag nun weitergeht? „Am ehesten wohl ohne Schuhe, mit nackten Füssen.“

Vera Rüttimann

aus: „Sonntag“ vom 11.12.03