Fortsetzung

Kurz darauf kommt der Verantwortliche für die Veranstaltung und zeigt mir den Raum: Ein riesiger Gemeindesaal mit einer Bestuhlung für etwa 120 Menschen. Der hintere Bereich ist frei, vorne ist ein 40 Quadratmeter großes etwa ein Meter hohes Podest aufgebaut, in dessen Mitte einsam ein Tisch steht, der wohl mir zugedacht ist. Die Beleuchtung ist nur im Neon-alles-oder-nichts-Modus zu haben und deshalb ziemlich grell. Vor dem Podium ist mittig ein Mischpult aufgebaut, mit dem man eine ganze Fabriketage beschallen könnte. Ich schaue nach dem schnurlosen Mikrofon, um das ich schon im Voraus gebeten hatte. Fehlanzeige. Da hängt nur eines mit 15-Meter-Schnur.

Ich setzte mich auf den Rand des Podiums neben das Mischpult um zu überlegen, wie ich mit diesen Rahmenbedingungen umgehe. Die ersten Interessierten tröpfeln herein, suchen sich ihre Plätze. Einige scheinen sich zu kennen. Mit meinen Gedanken beschäftigt höre ich ein Trompeten: „Hallo, ich bin Jonas“. Seinen Nachnamen nennt er auch, aber den habe ich vergessen. An seinen leicht schaukelnden Bewegungen, seinem Gang und der Sprechweise wird mir deutlich, dass er nach gängigen Maßstäben als geistig behindert gilt. Ich grüße zurück. Er setzt sich in die dritte Reihe, etwa drei Meter von mir entfernt. „Jüdisch find ich ganz toll“ erzählt er in gleicher Lautstärke weiter. „Heute abend ist ganz viel jüdisch hier. War in der Zeitung. Deswegen bin ich da“. Klar: christlich-jüdischer Bibliolog, christlich-jüdischer Arbeitskreis und jüdisches Gemeindehaus.

Die Reaktionen der anderen Anwesenden changieren zwischen Irritation, peinlichem Berührtsein, verlegenem zur Seite blicken, Füsse scharren und Amüsiert sein. „Ich war nämlich vor drei Wochen in Berlin“ erzählt Jonas weiter. „Mit meiner Wohngruppe und Klaus und Anne. War ganz toll. Im Jüdischen Museum war ich auch. Hat mir wahnsinnig gut gefallen.“ „Und was haben Sie sich sonst noch angeschaut?“ frage ich nach. „Reichstag. Die Kuppel war riesengroß. Da sind wir ganz rumgelaufen. Ein Politiker hat mit uns geredet.“ „Und was hat Sie am meisten beeindruckt?“ frage ich weiter. „Das Holocaust-Denkmal“. Das Wort fällt ihm schwer und wie er es ausspricht, zucken einige zusammen. „Und was genau“ hacke ich nach. „Die dunklen Steine. Große und kleine. Ich bin reingegangen. Die Sonne hat geschienen. Aber alles so traurig, ganz traurig.“ Ich sage: „Unsere Geschichte heute abend fängt auch ganz traurig an. Jetzt begrüße ich erst einmal die anderen, und dann fangen wir miteinander an.“

Im Raum sitzen verstreut etwa 25 Leute. „Guten Abend. Ich bin Iris Weiss und möchte mit Ihnen heute eine fast unbekannte Gestalt aus der Bibel entdecken, Zippora. Weil wir das miteinander tun und ich keinen Vortrag halten werde, möchte ich, dass wir uns hinten im Kreis setzen. Jonas schaut etwas verunsichert. Ich nehme ihn mit in den hinteren Bereich. Der Kreis wird eher ein Ei. Jonas sitzt links neben mir. Bis zum nächsten Stuhl sind es drei Meter und dann sitzen alle ungewöhnlich eng beieinander. Ich erkläre, wie ein Bibliolog abläuft, dass ich auch unbekannte Texte aus dem Midrasch einbeziehen werde, alle eingeladen sind sich zu beteiligen und niemand etwas Falsches sagen kann.

Ich erzähle die Geburtsgeschichte von Moses, die Flucht nach Midian, komme am Brunnen von Midian an und frage Moses, was ihm jetzt durch Herz und Sinn geht?

-Ich bin müde und erschöpft. Endlich ein Brunnen, wo ich mich ausruhen kann.
– Wie ist denn hier eigentlich mein Aufenthaltstitel? Wenn hier Einheimische kommen, muß ich dann vorsichtig sein oder sind sie mir wohl gesonnen?
– Wenn der Pharao Kopfgeldjäger auf mich angesetzt hat und die hierher kommen, wird dann ein Auslieferungsverfahren eingeleitet?
– Endlich Wasser – endlich was zu trinken.
– Ich habe schon tagelang mit keiner Menschenseele gesprochen.
– Ich fühle mich so entwurzelt. Ägypten ist weit weg, liegt hinter mir. Und jetzt?

Ich erzähle von Zippora und ihren Schwestern, die jeden Tag zum Brunnen kommen um die Tiere zu tränken, aber immer von den Hirten weggedrängt werden. Moses sitzt am Brunnen und sieht das. „Moses, wie findest Du das?“

-„Saugemein. Das ist saugemein. Das dürfen die nicht“ schaltet sich Jonas zum ersten Mal ein.
– Ich finde das unerträglich.
– Ich bin in einer schwierigen Situation. Was passiert mit mir, wenn ich eingreife. Ich brauche Helfer in diesem Land … meinen andere Stimmen

Der Bibliolog läuft gut. Und ich könnte jetzt einen Midrasch einbringen. Ob Jonas damit was anfangen kann? Soll ich oder soll ich nicht? Ich entscheide mich dafür und erzähle von Jitro. „Der Midrasch erzählt: Als Jitro der Heirat von seiner Tochter Zippora und Moses zustimmt, da stellt er dem Moses eine Bedingung. Von den Kindern, die Moses und Zippora bekommen, muß die eine Hälfte als Midianiter erzogen werden, die andere Hälfte nach der Tradition des Moses. Sie sind Moses. Moses, wie soll das aussehen, wenn die Kinder in einer Familie ganz unterschiedlich erzogen werden sollen, die einen ganz anders als die anderen?“

„Ach. alles nicht so heiß gegessen wie gekocht“ meint Jonas mit wegwerfender Handbewegung
– Bis es soweit ist, hat mein Schwiegervater das vielleicht vergessen
– Wer weiß, wie die Situation dann sein wird
– bleibt mir wohl nichts anderes übrig als darauf einzugehen in meiner Lage
– Was der für Ideen hat und wie der sich das vorstellt … meinen andere Stimmen

Gerschom (der-als-Fremder-im-Land-weilt) und Eliezer (Mein-G-tt-ist-Hilfe) kommen noch ins Spiel. Nach weiteren Rollen, es ist inzwischen fast eine Stunde vergangen, will ich den Bibliolog beenden, das De-Roling einleiten und dann den Text noch einmal vorlesen. Da höre ich eine Stimme neben mir: „Kann ich nicht der Midrasch sein? Midrasch ist so ein schöööner Name“. „Ja klar, kannst Du der Midrasch sein“ antworte ich und denke, au weh, jetzt entgleist mir der Bibliolog. Aber nachdem ich fast am Schluß angelangt bin, wird es hoffentlich nicht ganz so schlimm werden. Und während ich fieberhaft überlege und nach einem Ansatzpunkt suche, wie ich jetzt weitermache, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Er denkt, dass „Midrasch“ eine Person ist – und die möchte er jetzt sein, was immer er sich darunter vorstellt. An diesem Abend hat er immer wieder Namen gehört, die ihm vermutlich neu waren: Zippora, Jitro, Midian, Gerschom, Eliezer. Während des Bibliologs habe ich immer wieder Material aus klassischen und modernen Midraschim einbezogen und das eingeleitet: „… und der Midrasch erzählt“. Und so wie in seiner Wohngruppe Klaus oder Anne etwas erzählen, so erzählt hier eben der „Midrasch“.

Er schaut mich intensiv und erwartungsvoll an. „Du bist jetzt der Midrasch. Jeder Name hat eine Bedeutung. So wie Zippora Vogel heißt oder wie Jonas“. „Jonas heißt Taube“ kommt es wie aus der Pistole geschossen. „Ja, genau. Und Midrasch ist der Entdecker, der Forscher, der ganz genau hinschaut und immer neu sucht. Suchen kann man in Büchern. Und man kann auch in seinem Herzen suchen.“ Er hört aufmerksam zu und nickt. „Mach mal Deine Augen zu, Midrasch“ fordere ich ihn auf „und schau in Dein Herz. Wenn Du an die Geschichte von Moses, Zippora, Gerschom und Eliezer denkst, was möchtest Du ihnen sagen, Midrasch?“ Er schweigt länger. Alle schweigen mit. Es ist eine Art atemloses Schweigen in diesen Augenblicken. Und der Midrasch sagt mit feierlichem Ernst und klarer Stimme: „Ich wünsche der Familie alles Gute. Egal, was sie erleben. Sie sollen immer wissen, dass sie einer beschützt“ Danke, Midrasch.

Danach haben wir noch über den Bibliolog gesprochen. Ich habe Fragen beantwortet. Einzelne Teilnehmende kamen noch auf mich zu und wollten dieses oder jenes nachfragen. Als ich mich von Jonas verabschieden wollte und mich nach ihm umsah, war er weg – genauso plötzlich wie er gekommen war.

Iris Weiss lebt in Berlin und dort in verschiedenen jüdischen Gruppen sowie im christlich-jüdischen und im interreligiösen Dialog aktiv. Sie ist Ausbilderin im Europäischen Netzwerk Bibliolog und Mitglied in dessen Ausbildungskommission.

Erstveröffentlichung: TextRaum 14/27 (2007), 30-31

Schlagworte: Bibliolog, Midrasch, christlich-jüdischer Dialog, geistig Behnderte, Inklusivität, Bibliolog und Inklusion